Kübra Göksel. Foto: privat
Ein Gastbeitrag von Kübra Göksel
Heidelberg. Eigentlich wollte ich nie Historikerin werden. Nach einem tränenreichen Sommer und der Absage von meinem Wunschstudienfach entschied ich mich, etwas Zeit mit ein paar Geschichtsvorlesungen zu überbrücken. Fünf Jahre später: Ich stehe im Historischen Seminar Heidelberg vor dem Zimmer, worin gleich meine Abschlussprüfung stattfinden wird und werfe einen letzten Blick auf den Zettel mit meinen Prüfungsthemen: Muslimisches Spanien und Reconquista, Jüdisches Leben im Mittelalter, Rassismusgeschichte in Europa, Deutscher Kolonialismus, Gastarbeit und Migration in der BRD, Dekolonisation.
Ich frage mich plötzlich, warum ich in einem Studium, das ich aus purer Lust und Laune begann, mich fast ausschließlich mit dem Thema beschäftigte, was mir alle Lust und Laune raubt: Rassismus. Ich erinnere mich an all die Male, wie ich durch das Vorlesungsverzeichnis blätterte und mich wunderte, wer wohl diese Kurse zu dieser französischen Königin oder jenem Friedrich, Karl oder Alfred belegte. Wer hatte so viel Gedankenfreiraum, so viel Ruhe im Leben und so viel emotionale Distanz zur Geschichte, um sich nach Lust und Laune entscheiden zu können, womit man sich beschäftigen will?
Geschichte war für mich in erster Linie ein Erklärungsversuch. Durch die Analyse des Vergangenen die Gegenwart erklären können, dafür liebte ich Geschichte. Und es gab genug Dinge in meinem Leben, die einer Erklärung bedurften: Warum geht es meiner Familie, meiner Community so, wie es ihr geht? Warum fühlt sich allein unsere Präsenz in diesem Land so an, wie sie sich anfühlt? Warum werde ich so behandelt, wie ich behandelt werde? Um auf diese Fragen, die mein Leben strukturieren, Antworten zu finden, musste ich mich mit der Geschichte des Rassismus beschäftigen.
Mit den Anfängen des Blutgedankens während der spanischen Inquisition, der Entwicklung der "Rassen"lehre in der frühen Neuzeit, mit der Ausbeutung von Millionen "rassisch" Anderer während der Kolonialzeit, dem Fortbestehen rassistischen Wissens in der westdeutschen Einbürgerungspraktik und der Ausländerpolitik der 70er bis 90er Jahre. All diese historischen Momente stehen in einer Kontinuitätslinie und sind unumgänglich, um die manchmal subtilen, manchmal sehr offensichtlichen Rassismen der Gegenwart zu verstehen.
Für mich persönlich hatte diese Auseinandersetzung mit der Geschichte des Rassismus die nötigen Erklärungen geliefert. Aber in dem Augenblick vor dem Prüfungsraum, Sekunden vor meiner Abschlussprüfung, ging mir noch etwas anderes durch den Kopf: Womit hätte ich diese fünf Jahre meines Lebens noch verbringen können, wenn ich nicht damit beschäftigt gewesen wäre, nach Erklärungen zu suchen? Was hätte mich noch interessiert, wenn ich mich nicht damit hätte auseinandersetzen müssen, wie Menschen wie ich seit Jahrhunderten als anders und fremd markiert werden, um unsere Marginalisierung zu rechtfertigen? Wer und was wäre Kübra, wenn sie nicht Zeit ihres Lebens damit verbringen müsste, nach dem Beginn, der Mitte und dem möglichen Ende ihrer Entmenschlichung zu suchen?
Rassismus lenkt ab. Niemand beschäftigt sich aus Lust und Laune mit ihm. Es ist keine freiwillige Entscheidung gewesen, ein Fünftel meines Lebens damit zu verbringen, ihn mir selbst zu erklären. Aber Rassismus erlaubt keine Fantasien, lässt keine Zeit für eigene Interessen abseits aller Erklärungszwänge, gibt keine Möglichkeit sich selbst zu finden, wenn man noch im Schatten dessen steht, was andere aus dir gemacht haben. Rassismus lenkt uns von uns selbst ab.
Kübra Göksel, 24, lebt in Handschuhsheim und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg. Sie promoviert zum Thema Erinnerungskultur türkeistämmiger Migrantinnen 1960-1990. Göksel ist Vorsitzende des Migration Hub Heidelberg, wo sie sich abseits aller Erklärungen nun mit möglichen Lösungen der Rassismusfrage beschäftigt.