Matthaeus Merian: Haidelberga, Großes Panorama von Norden, Radierung, 1620. Nur wenige Exemplare des berühmten Druckes sind heute noch bekannt. Drei der gut einen Meter breiten Blätter hütet das Kurpfälzische Museum. Foto: zg
Von Manfred Bechtel
Heidelberg. Gerade wollte der Koch seinen Küchenjungen an den Ohren ziehen, da blieb das Bild stehen. König und Königin, der Hofstaat und das ganze Schloss fielen in einen tiefen Schlaf. Für hundert Jahre war die Zeit angehalten. So erzählt das Märchen Dornröschen von dem Werk der Zauberinnen. Einem genialen Künstler und Handwerker verdanken wir dagegen, dass ein Augenblick aus der Vergangenheit unserer Stadt festgehalten ist: Vor 400 Jahren vollendete der Kupferstecher Matthaeus Merian (1593–1650) seine bekannte Radierung "Haidelberga, Großes Panorama von Norden". Es zeigt am Hang die prächtige Burg und im Tal die Stadt mit Türmen und Toren, umgeben von einer Mauer. Eine wohlgeordnete kleine Welt im Jahre 1620, vor den Kriegen, vor dem großen Stadtbrand und vor den Veränderungen in barocker Zeit.
Treideln: Neckaraufwärts wird ein Kahn getreidelt, von der Mastspitze führt ein Seil zu dem Pferd und dem Schiffsreiter auf dem Leinpfad.Um auch den Menschen darin näher zu kommen, lohne es sich, zur Lupe zu greifen, regte der Heimatforscher Ludwig Merz an. Klein wie Ameisen sind die Bewohner auf den Plätzen und in den Gassen bei ihrem Tagewerk. Merian hat sie beobachtet und mit der Radiernadel gezeichnet. Besonders am Neckarufer herrscht geschäftiges Leben: Beim Tränktor tummeln sich Ross und Reiter in der Pferdeschwemme, am Krahnenplatz werden Fässer verladen, am Zimmerplatz Balken zugerichtet, an der Herrenmühle drehen sich fünf Mühlräder, und ein Esel schleppt Korn heran. Zu einem Floß zusammengebunden schwimmen auf dem Neckar mächtige Stämme; flussaufwärts wird ein Kahn getreidelt, von der Mastspitze führt ein Seil zu dem Pferd und dem Schiffsreiter auf dem Leinpfad.
Fünf Mühlräder drehen sich an der Herrenmühle, ein Esel schleppt Korn herbei.Auf dem Turnierplatz im Herrengarten (er lag zwischen Hauptstraße und Plöck) galoppieren zwei Kavaliere mit eingelegten Lanzen aufeinander zu. Vor der westlichen Stadtmauer, im Seegarten, exerzieren die Fußsoldaten mit Spießen und Musketen. Es sollte nicht lange dauern, bis aus den Übungen blutiger Ernst wurde. Auf dem St.-Anna-Friedhof erinnert ein Trauerzug an das Ende menschlichen Daseins. Im Bereich des heutigen Bismarckplatzes, damals vor dem westlichen Stadttor, lag der "Rabenstein". Mit dem Schwert übte dort der Scharfrichter sein Handwerk aus. Weit draußen im Feld (an der heutigen Kreuzung Franz-Knauff-Straße/Römerstraße) ist der Galgen aufgerichtet.
Auf dem Turnierplatz im Herrengarten galoppieren zwei Kavaliere mit eingelegten Lanzen aufeinander zu.Von der "Meriankanzel" oberhalb des Philosophenweges, so heißt es, habe der Künstler die Stadt porträtiert. Frieder Hepp, Direktor des Kurpfälzischen Museums, schränkt ein: "Wahrscheinlich ist Merian auch mal nach oben gestiegen und hat das von ihm entworfene Gesamtbild vor allem hinsichtlich der Perspektive überprüft. Aber wesentliche Erkenntnisse wurden nicht von oben, sondern unten vor Ort gewonnen. Bei den Städtepanoramen ist man die Quartiere abgegangen, hat sie gezeichnet und dann wie auf einem Schachbrett aneinandergebaut. Außerdem standen Merian gute Vorlagen zur Verfügung, zum Beispiel der Holzschnitt von Sebastian Münster, von dem hat er einiges abgekupfert."
Die Kutsche mit Kurfürst Friedrich V. und seiner Gemahlin Maria Stuart rollt am Neuenheimer Ufer auf die Alte Brücke zu.Um in die Gassen hineinzusehen, um Fassaden und ihre prächtigen Portale ganz zeigen zu können, sind die Straßen teils breiter und Dächer, die den Blick auf die gegenüberliegenden Häuser verdecken, niedriger dargestellt. Aber: Beim Vergleich der am Philosophenweg installierten Reproduktion mit dem heutigen Panorama, "glaubt man, unten in der Stadt tatsächlich etwas zu sehen, was man in Wirklichkeit so gar nicht wahrnehmen kann. Das ist das Faszinierende daran!", sagt Hepp. "Was Merian auszeichnet, ist sein scharfes Auge und der virtuose Umgang mit der Perspektive. Diese wurde in der Renaissance in Italien wiederentdeckt und hat die Erstellung von Stadtansichten im 16. und 17. Jahrhundert maßgeblich begünstigt. Merian hat sie meisterlich beherrscht. Bei genauem Hinsehen kann man auf seinem Panorama sogar drei perspektivische Linien ausmachen."
Geschäftiges Leben am Neckarufer: Am Krahnenplatz werden Fässer verladen.Dabei entwirft der calvinistische Schweizer Kupferstecher Merian das Idealbild einer reformierten Stadt. Sein Blick fällt von oben auf ein Gott wohlgefälliges Werk. Die beiden beherrschenden Kirchen, die Heiliggeistkirche und die Peterskirche, symbolisieren die Frömmigkeit der Menschen. Das Schloss, aufgeklappt wie ein Bühnenbild, ist proportional vergrößert und bringt zum Ausdruck, wer über diesen kleinen Kosmos herrscht: der Kurfürst mit seiner Gattin. Im Vordergrund haben Friedrich V. und seine Gemahlin Elisabeth Stuart höchstselbst ihren Auftritt. An den seidenen Halskrägen sind sie zu erkennen, wie sie aus dem Fenster ihrer Kutsche blicken, die sechsspännig auf der Neuenheimer Landstraße vorbeirollt.
Leichenzug: Auf dem St.-Anna-Friedhof folgt ein Leichenzug mit mehreren Menschen dem Sarg.Es scheint, als habe Merian die Vergänglichkeit dieser geordneten Welt gespürt. Als er den Stich 1620 vollendet, weilt das Herrscherpaar schon nicht mehr in Heidelberg, sondern in Prag. Friedrich trägt seit November 1619 die böhmische Königskrone. Er ist auf dem Höhepunkt seiner Macht – bis am 8. November 1620, einem Sonntag, die Schlacht am Weißen Berg verloren geht. Friedrich verliert das Königreich. Als "Winterkönig" verspotten ihn seine Gegner. Für seine kurpfälzische Residenz Heidelberg endet die glückliche Zeit, wie sie uns in Merians Panorama entgegentritt. Der Niedergang ihres Herrscherpaares besiegelt auch das Schicksal der Kurpfalz.
Info: Zum Weiterlesen empfiehlt der Autor zwei Werke. "Ludwig Merz: Alt Heidelberg in Kupfer gestochen – Eine Wanderung mit der Lupe durch den Kupferstich Matthäus Merians von Heidelberg, A.D. 1620" . Frieder Hepp: Matthaeus Merian in Heidelberg: Ansichten einer Stadt. Heidelberg, HVA, 1993.