Von Anna Manceron
Heidelberg. Professor Rainer Holm-Hadulla (66) ist Psychiater und Psychoanalytiker. Er lehrt an der Universität Heidelberg und ist Gastprofessor an der Pop-Akademie Mannheim. Im RNZ-Interview spricht er über Cannabis, seine Erfahrungen und die Verbindung zur Musik.
RNZ: Herr Holm-Hadulla, wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen mit Cannabis?
Rainer Holm-Hadulla: Als Arzt und Psychotherapeut sehe ich sehr viele negative Folgen. Ich habe allerdings auch Freunde, die ohne sichtbaren Schaden gelegentlichen Feizeitkonsum betreiben. Und es gibt Patienten, besonders mit schweren Tumorschmerzen, bei denen Cannabis eine Behandlungsoption sein kann. Bei Kindern und Jugendlichen sowie bei regelmäßigem Gebrauch von Cannabis-Mischungen mit starkem THC Gehalt führt Cannabis aber häufig zu bleibenden Schäden.
Welche gesundheitlichen Folgen hat denn Ihrer Kenntnis nach ein regelmäßiger Konsum von Cannabis?
In erster Linie kann er zu Energie- und Motivationsverlust führen. Man fühlt sich entspannt und gelassen, verliert aber den Antrieb, eigene Ziele zu verfolgen. Bei vielen Cannabiskonsumenten treten zusätzlich Konzentrations- und Gedächtnisstörungen auf sowie Depressionen und Angstzustände. Früher Konsumbeginn geht oft mit Schulversagen und Scheitern im Berufsleben einher. Zudem erhöht regelmäßiger Konsum die Anfälligkeit für bestimmte körperliche Störungen wie Lungenkrankheiten und Hodenkrebs. Die aus psychiatrischer Sicht gravierendsten Folgen langjährigen Cannabis-Gebrauchs sind chronische Psychosen und Suizide. Die tödlichen Verkehrsunfälle unter Cannabis sollte man auch nicht vergessen.
Kann denn schon ein gelegentlicher Joint eine solche Psychose auslösen?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Es hängt natürlich auch davon ab, wie anfällig ein Mensch für psychische Erkrankungen ist. Wer körperlich und geistig fit ist, ein stabiles soziales Umfeld hat und hin und wieder zur Entspannung einen Joint raucht, der wird wahrscheinlich keine bleibenden Schäden davontragen.
Gibt es ein Alter, in dem es besonders gefährlich ist, Cannabis zu rauchen?
Ja, sicher. Vor allem für Kinder und Jugendliche hat ein regelmäßiger Konsum oft katastrophale Folgen. Während der Pubertät finden im Gehirn einschneidende Umbauprozesse statt, die mit etwa 21, bei manchen erst mit 25 Jahren abgeschlossen sind. Diese Umbauphase wird besonders durch den in Cannabismischungen enthaltenen Wirkstoff THC stark beeinträchtigt. Wenn Kinder und Jugendliche früh lernen, ihre Gefühle und Gedanken chemisch zu manipulieren, werden sie später auch leichter zu härteren Drogen wie Amphetaminen, Ecstasy, Kokain und sogenannten neuen psychoaktiven Substanzen (NPS) greifen.
Sie kritisieren, dass Cannabis in den Medien oft verharmlost werde, preisen selbst aber die Musik der Doors, die für ihre Drogenverherrlichung bekannt waren: Das ist doch ein Widerspruch?
Wenn man die Texte von Jim Morrison und den Doors – und auch die der Rolling Stones – aufmerksam liest, erkennt man, dass sie Drogen nicht verherrlichen, sondern ihre Gefahren aufzeigen. Die meisten Pop- oder Rockstars sprechen im Nachhinein sehr kritisch über ihre Drogenzeit. Wenn man über so stabile familiäre Bindungen und unbändige Energie sowie zielgerichtete Disziplin wie Mick Jagger verfügt, wird einem der gelegentliche Cannabiskonsum wahrscheinlich nicht schaden. Wenn man aber in instabilen Familienverhältnissen aufwächst, sich abgelehnt fühlt und unter starken Selbstzweifeln leidet wie Janis Joplin, Amy Winehouse und Kurt Cobain, kann Cannabis zur Einstiegsdroge werden.
Vor allem in der Musikszene gilt Cannabis ja auch heute noch als Stimulationsmittel für kreatives Schaffen. Wie wirkt sich Cannabis denn Ihrer Erfahrung nach auf die Kreativität aus?
Dass wir unsere Kreativität mit Cannabis und andere Drogen steigern können, ist ein Mythos. Viele Musiker sind kreativ nicht weil, sondern obwohl sie Cannabis konsumieren. Wenn sie komplexe Werke komponieren, anspruchsvolle Texte schreiben und neue Songs aufnehmen, sind sie meist nüchtern. Die für Kreativität notwendigen Bedingungen wie Begabung, Können und Durchhaltefähigkeit lassen sich nicht durch Drogen verbessern. Allenfalls kann man für kurze Zeit die Reizoffenheit und den Ideenfluss steigern, aber was hilft das, wenn die Kraft zur Ausarbeitung der Ideen fehlt? Als Psychotherapeut habe ich immer wieder mit Musikern und bildenden Künstlern zu tun, die aufgrund ihres Cannabis-Konsums weit unter ihren Möglichkeiten geblieben sind. Glücklicherweise stellt sich ihre kreative Arbeitsfähigkeit oft wieder ein, wenn sie auf diese Droge verzichten.
Welche Folgen hätte eine Legalisierung von Cannabis?
Die Legalisierung ist ein komplexer juristischer Aushandlungsprozess. Als Arzt und Wissenschaftler kann ich mich nur zu den Effekten der freien Vermarktung äußern. Diese würde wie in den USA dazu führen, dass der Konsum von Kindern und Jugendlichen steigt. Die sogenannte Liberalisierung geht mit einer Unterdrückung der natürlichen Potentiale besonders von Kindern und Jugendlichen einher. Ein drogenfreundliches gesellschaftliches Klima führt auch zum Anstieg härterer Drogen und tödlicher Überdosierungen. Die New York Times berichtet im Oktober 2016, dass die USA von einer Drogenepidemie erfasst werden. Diese sei mit der AIDS Epidemie in den 1980er und 1990er Jahren vergleichbar. Im Vergleich dazu ist die restriktive deutsche Drogenpolitik erfolgreicher: Hierzulande gibt es wesentlich weniger Opfer von Cannabis und anderen Drogen als in Ländern mit "liberaleren" Gesetzen.
Ist der Kampf gegen die Legalisierung überhaupt noch zu gewinnen?
Ich kämpfe nicht gegen die Legalisierung, sondern gegen verharmlosende Werbung und eine schrankenlose Vermarktung. Den kontrollierten Verkauf als Medikament, zum Beispiel bei Tumorschmerzen, halte ich durchaus für sinnvoll. Auch sollte man selbstbestimmte Menschen nicht kriminalisieren, wenn sie in geschützten Räumen Cannabis konsumieren. Aber wir dürfen unsere Verantwortung nicht auf Kinder und Jugendliche abwälzen. Eltern und Lehrer sollten vorleben, dass zur Selbstverwirklichung gute persönliche Bindungen, schulisches und lebenslanges Lernen, Freund- und Liebschaften, Sport, Tanz, Musik, Literatur und sinnvolle Arbeit besser taugen als Drogen. Erziehen heißt "sich selbst erziehen", wie dies Hans Georg Gadamer so treffend ausgedrückt hat.