Von Sebastian Blum
Heidelberg. Blutverschmiert steigt Lena Gruenwald in ein Taxi und verlangt eine Kurzstreckenfahrt zum Potsdamer Platz in Berlin. Was die junge Frau nicht (mehr) wahrnimmt: Sie befindet sich am Heidelberger Hauptbahnhof, hat ein Skalpell in der Hand und den Bezug zur Realität scheinbar völlig verloren. Am Ende soll sie ins weiße Licht schauen.
Dieser Schnipsel ist Vorspann und Eintrittstor zugleich in eine paranormale Welt, in die der Autor und Regisseur Ivar Leon Menger mit seinem neuen Hörspiel-Thriller "Ghostbox" entführt. Satte neun Stunden spielt die Handlung der ersten Staffel in Heidelberg, wo Forscher an der Uniklinik Bahnbrechendes entdecken: "Digitale Unsterblichkeit. Sie finden heraus, wie man das menschliche Bewusstsein auf eine Festplatte kopiert", berichtet Menger im Gespräch mit der RNZ.
Heidelberg hat er unter anderem deswegen gewählt, weil die Unistadt mit ihrem großen Klinikkomplex im Neuenheimer Feld die perfekte Kulisse für Science Fiction biete. Zuhörer sind auch schon in den ersten zehn Minuten mit dem Übernatürlichen konfrontiert. Allerdings zunächst in Berlin. Dort will die 23-jährige Protagonistin Lena Gruenwald ihren Chefredakteur als ehrgeizige Praktikantin des "Tagesspiegels" mit einer heißen Story überraschen: Sie besucht den Tonbandstimmen-Forscher Hermann Markowitz. Der behauptet, Beweise für menschliche Existenz nach dem Tod zu besitzen. Geisterstimmen auf mehr als 600 Kassetten.
Sprung nach Heidelberg: Dort finden Studenten eine verstümmelte Leiche am Neckar - das nächste weibliche Opfer, und schon wieder ist der Kopf abgeschlagen. Vielleicht ein Serienmörder, und das im idyllischen Unistädtchen?
"Ghostbox" zeichnet sich durch einen bis ins Kleinste verdichteten Plot und ein hervorragendes Audiodesign aus. Menger und die produzierende Amazon-Tochter Audible haben über 50 bekannte Sprecher gecastet, allen voran Yvonne Greitzke in der Hauptrolle der Lena Gruenwald. Die deutsche Harry-Potter-Stimme Nico Sablik spielt den jungen Heidelberger Kommissar. Das dramaturgische Geflecht sorgt dank schauderhafter Klangfetzen auf den Tonspuren für spannendes Kopfkino. Wenn auch nicht jeder Dialog frei von Klischees ist.
Filmische Assoziationen liegen nahe, vor allem wegen thematischer Überschneidungen mit "Paranormal Activity", "Interstellar", "Black Mirror", gelegentlich sogar mit düsteren "Tatort"-Episoden. Das wundert kaum. Mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen sich Menschen seit dem Altertum.
Aus der Popkultur sind Fragen zum Jenseits ebenso wenig wegzudenken. Wieso auch? Solange die Wissenschaft keine finale Antwort auf Existenzen, irdische Überbleibsel in einer anderen Dimension oder sonstige menschliche Daseinsformen nach dem Tod gefunden hat, bleibt das Thema spannend.
In "Ghostbox" stehen Heidelberger Forscher dagegen vor dem Durchbruch. Lenas Bruder Daniel ist Teil des Teams, nimmt sich aber plötzlich das Leben. Nach diesem Schicksalsschlag geht die ehrgeizige Journalistin der Sache nach und reist in die Touristenstadt am Neckar. Was Lena herausfindet, bedroht nicht nur ihr Leben. Sie könnte auch ihr Selbst verlieren.
Sorgt für spannendes Kopfkino: Autor und Regisseur Ivar Leon Menger. Foto: zg
Für Autor Menger kommt Lena eine besondere Rolle zu. "Was im Geheimen geforscht wird, erfahren wir in der Öffentlichkeit gar nicht oder nur selten", so der 45-Jährige. Schon vor 25 Jahren sei er durch Computerwissenschaftler mit Virtual Reality in Kontakt gekommen.
"Heute gibt es das auf Spielkonsolen." Was er sagen möchte: Welche Experimente 2019 hinter verschlossenen Labortüren laufen, erfährt man fast nie. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg sind die Ausnahme. Dort sollen Tierversuche durchgeführt worden sein.
"Ghostbox" entspricht einem neuen Trend: Ein weiteres Randprodukt erreicht den großen Medienmarkt, diesen Eindruck bestätigt Menger. Hörspiele kannten bis vor wenigen Jahren vor allem entweder Kinder - beliebte Gute-Nacht-Helden sind "Bibi Blocksberg" und "Die Drei ???" nach wie vor - oder Berufspendler.
"Hörbücher für Erwachsene gab es zwar immer, aber das war eine Nische", so Menger. Ein sechsstelliger Betrag soll für solche aufwendigen Produktionen üblich sein. Eigenen Angaben zufolge können Nutzer des Online-Portals aus einem Pool von 200.000 Hörbüchern schöpfen. Um gewissermaßen aufzuholen, was der Videostreaming-Dienst Netflix etwa mit "Stranger Things" bereits am Bildschirm geschafft hat: ein Format zum Mainstream zu entwickeln.
Von einem regelrechten "Audio-Boom" spricht Audible selbst. 18 Millionen Menschen haben laut firmeneigenem "Hörkompass" 2018 Hörbücher genutzt, zwei Millionen mehr als noch ein Jahr zuvor. Bei "Ghostbox" spricht sogar Thriller-Autor Sebastian Fitzek eine Rolle. Und die RNZ hat mit einer fiktiven Reporterin ihren eigenen Auftritt in einer Folge.
Wieso sich Menger trotzdem gegen eine TV-Produktion entschied, hat einen einfachen Grund: "Ich komme ja ursprünglich vom Film, aber da dauert alles sehr lange." Seit 2006 produziert der in Darmstadt geborene Regisseur Hörbücher. Sein letztes Großprojekt, "Monster 1983", zieht sich über drei Staffeln. ",Monster’ kam ein Jahr vor ,Stranger Things’ heraus, und die Story ist recht ähnlich. Hätten wir einen Film aus dem Stoff machen wollen, wäre der womöglich erst zwei Jahre nach der Netflix-Serie veröffentlicht und deshalb vielleicht sogar eingestellt worden."
Es geht Menger aber auch um die Art des Konsums: "Zum Lesen nehmen sich heute viele keine Zeit mehr, und beim Fernsehen muss ich als Zuschauer praktisch nichts mehr tun. Bei Hörspielen brauche ich aber noch Fantasie."
Diese Aussage entspricht Forschungsergebnissen des University College London, wonach das Hören von Büchern größere emotionale und physiologische Reaktionen hervorrufe als visuelle Medien. Allerdings sorgt die Digitalisierung dafür, dass Menschen den Löwenanteil ihrer Zeit vor Bildschirmen verbringen, ob per Smartphone, PC oder TV, ob zu Hause, in der Bahn oder während der Arbeit. Hörbücher sind da auch Heilmittel für den überlasteten Sehnerv.
Wie Podcasts sind sie nicht mehr aus der Medienlandschaft wegzudenken. "Ich vergleiche das immer mit den Handballern auf ZDF. Plötzlich sieht man sie, und dann spricht jeder darüber. Mit den Hörspielen fängt das jetzt erst so richtig an."
Heidelberg also auch aus Marketing-Gründen? Sollte die erste Staffel ins Englische übersetzt werden wie "Monster 1983", können amerikanische Hörspiel-Fans wenigstens etwas mit den Städten anfangen, meint Menger: "Heidelberg und Berlin sind die deutschen Städte, die man in den USA gut kennt." Eine zweite Staffel "Ghostbox" ist schon geplant. Auch die soll am Neckar spielen.
Info: www.ghostbox.de