Frühgeborene in Heidelberg werden nach einem einzigartigen Pflegekonzept betreut. Foto: Uniklinikum
Von Birgit Sommer
Heidelberg. Wenn schon als Frühchen zur Welt kommen, dann in Heidelberg. Denn hier verläuft der Start ins Leben besser als anderswo. Kinder, die vor Ende der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden - das ist laut Weltgesundheitsorganisation bei jedem zehnten Baby der Fall -, haben im Universitätsklinikum die besten Chancen auf ein Dasein ohne Behinderungen. Das gilt sogar international, wie eine kanadische Studie für Europa, die USA und Kanada vor drei Jahren ergab.
Die Zahlen jedenfalls, die Prof. Johannes Pöschl, Chef der Neonatologie, für seine Klinik auflistet, kann er leicht als "exzellent" bezeichnen. Von 474 Babys mit einem Gewicht unter 1500 Gramm, die in den letzten fünf Jahren dort zur Welt kamen, haben 93,6 Prozent ohne schwerwiegende Komplikationen überlebt. Heidelberg registriert hier nach Aussage von Pöschl sogar die geringste Hirnblutungsrate in ganz Deutschland (1,8 Prozent). Hirnblutungen in den ersten Lebenstagen können geistige und körperliche Behinderungen verursachen. Wichtig ist deshalb: Stress vermeiden, keine Transporte der Babys.
Unter 24 Wochen alt und weniger als 500 Gramm Gewicht - das sind die besonderen Herausforderungen der Neonatologie, die sich mit der Behandlung von Frühgeborenen und den Erkrankungen von Neugeborenen befasst. In Heidelberg haben im Jahr 2015 von acht Kindern, die weniger als 500 Gramm wogen, sechs ohne schwerwiegende Komplikationen überlebt. Das bedeutet, dass sie beispielsweise weder taub noch blind waren und keine Hirnblutung, Lungenschädigung oder Darmerkrankung in den ersten Lebenstagen bekommen haben. Ihre Aussichten laut Pöschl sind gut, aber: "Sie müssen kognitiv gefördert und unterstützt werden, um als Erwachsene ein normales Leben führen zu können."
Eine Untersuchung der Universität Warwick in England zeigte: Zu früh geborene Kinder erreichen meist geringere Bildungsabschlüsse, arbeiten in schlechter bezahlten Jobs und tun sich schwerer, Freunde und Partner zu finden. Sie sind laut psychologischen Untersuchungen häufiger introvertiert und leben zurückgezogen. Doch Pöschl sagt auch: Wenn die Eltern es richtig machen und ihr Kind ohne Ängste erziehen, kann das seinen Intelligenzquotienten um fast 30 Punkte heben. "Es gibt Kinder, die mit einem Gewicht von 500 Gramm geboren wurden und die bei der Einschulung schon drei Sprachen sprechen." Bis zum Alter von sechs Jahren sollen die in Heidelberg geborenen Frühchen künftig in sozialpädagogischen Zentren untersucht werden, um ihre Entwicklung zu verfolgen. Bisher, so Pöschl, war meist am zweiten Geburtstag Schluss.
Was Heidelberg besser macht als andere Kliniken, ist das innovative entwicklungsfördernde Pflegekonzept für die Winzlinge - dazu werden zweimal jährlich sogar Schulungen für Ärzte und Pflegeteams anderer Krankenhäuser angeboten. Das beginnt bei der individuellen Lagerung mit "Nestbegrenzung" und einem echten Tag-Nacht-Rhythmus in der Betreuung. Der jeweils individuelle Rhythmus eines Kindes wird analysiert und respektiert. Reize, die von Personal und Technik ausgehen, werden vermieden oder minimiert. Selbst mit dem Streicheln muss man vorsichtig sein: Ein 24-Wochen-Kind empfindet das laut Pöschl als schmerzhaft, weil die Schmerz hemmenden Bahnen noch nicht ausgebildet sind. Dafür soll das Baby oft die Mutterstimme hören, Mutter und Vater kommen auch zur "Känguru"-Pflege in eine familiengerecht eingerichtete Intensivstation; Hautkontakt soll den zarten Wesen Wärme und Geborgenheit vermitteln.
85 Prozent der Frühchen bekommen auch abgepumpte, besonders behandelte Muttermilch - beispielsweise zwölf Mal täglich einen Milliliter, wenn sie 1000 Gramm wiegen. Wo das nicht möglich ist, gibt es erst einmal Zuckerwasser. Die Muttermilch tut dem Immunsystem der Winzlinge gut und hilft dabei, dass sich deren Darm nicht durch Bakterien entzündet. "Auch bei diesen Komplikationen ist unsere Rate in Heidelberg extrem niedrig", sagt Pöschl, "0,7 Prozent bei allen Frühchen ab 500 Gramm."
Ab wann ist ein Fötus überhaupt lebensfähig? Derzeit ziehen Mediziner und Genetiker die Grenze bei 24 Schwangerschaftswochen, das entspreche einem Gewicht von 600 bis 700 Gramm. Bei kleineren Kindern treffen die Heidelberger Neonatologen und Gynäkologen eine gemeinsame Entscheidung mit den Eltern.