Warum Weltformeln und wilde Theorien in einem "Giftschrank" in der Theoretischen Physik landen
Viele wollen Einstein widerlegen

Von Hans Böhringer
Heidelberg. Totenköpfe flankieren den Schriftzug auf der verglasten Schranktür: "Schwarze Physik". Vor welch verbotenem, geheimen Wissen wird der Besucher des Philosophenwegs 16 hier gewarnt? Ein Blick in die aufgereihten Ordner, Hefte und Bücher lässt Großes vermuten: Anleitungen für fantastische Vakuumenergiemaschinen, Weltformeln (gedruckt im Eigenverlag), Pamphlete und Traktate mit vielversprechenden Titeln wie "Atombombe rehabilitiert Inquisition" und "Sturz des Einstein’schen Weltbildes". Diese Sammlung hat der mittlerweile emeritierte Physikprofessor Dieter Gromes in den frühen Achtzigerjahren am Institut für Theoretische Physik der Uni Heidelberg angelegt, seitdem fanden die originellsten Einsendungen an das Institut oder an Gromes‘ Kollegen ihren Weg in den Schrank.
"Es braucht ein gewisses Niveau, es muss lustig sein und zumindest eine Aussage machen", erklärt Gromes seine Auswahlkriterien. Die meisten Einsendungen habe er überflogen – tut man es ihm gleich, entdeckt man Gemeinsamkeiten der Schwarzphysiker: Fast alle lehnen die Mathematiklastigkeit der modernen Physik ab; viele wollen mit ihrer Theorie alles Mögliche – das Universum, das menschliche Gehirn, das subjektive Zeitgefühl – unter einen Hut bringen, oft mit einfachen, mechanischen Modellen.
Ein beliebtes Anliegen in der Schwarzen Physik ist die Widerlegung der speziellen Relativitätstheorie (SRT) Einsteins. Gromes hat eine Vermutung, weshalb: Die SRT erfordere nur Schulmathematik, sei daher für Laien prinzipiell verständlich. Interessierte, oft belesene Leute, würden sich daran versuchen. Bei Unklarheiten gebe es manche, "die suchen den Fehler nicht bei sich selbst, sondern in der Theorie". "Diese Leute müssen viel Freizeit und Geld haben, einen gewissen Missionsdrang", erklärt Gromes, dann würden sie den Kampf mit der universitären Physik aufnehmen.
Nach Gromes‘ Emeritierung 2004 zog die Sammlung aus seinem Büro in den Schrank im Flur, Glastür und Totenköpfe hatte er als Zierde des "Giftschranks" besorgt. "Man kann’s überspitzt ernst nehmen. Dass es junge Leute auf den falschen Weg bringt. Eine reale Gefahr sehe ich nicht, dafür ist das viel zu mühsam." Aber ist Wissenschaftsleugnung nicht tatsächlich gefährlich für die Gesellschaft? Gromes hält den Begriff "Leugner" hier für unangebracht: "Das ist nicht zu vergleichen mit einem Donald Trump, der sagt: Das interessiert mich gar nicht, was da gemacht wird." Die Autoren würden teilhaben wollen an der Wissenschaft, im Gegensatz zu Klimawandelleugnern hätten sie keine anderen Motive: "Schlitzohren" seien das nicht, "die glauben alle daran."
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Laut Gromes gibt die Sammlung "Einblick in eine Welt, von der viele Leute nicht wissen, dass sie existiert: die Welt der Einzelkämpfer". Die gesammelten Briefe im Schrank lassen die Beharrlichkeit dieser Einzelkämpfer erahnen: Einer der Absender lässt wissen, er werde so viele Professoren anschreiben, wie es seine Rente zulässt. Er habe Mitleid und bedauere die Biografien, die hinter den Einsendungen stecken, erklärt Gromes. Die Schwarzphysiker, so mutmaßt er, würden sich als verkannte Genies sehen. Dass sie nicht allein sind, helfe auch nicht: Wenn sie bei Vorträgen aufeinandertrafen, seien sie "spinnefeind" gewesen – sehr zum Amüsement der anderen Zuhörer.
Wenn man diese Leute ausschließt und ihre Bücher und Briefe in dem Schrank einschließt, führt das nicht zu mehr Ablehnung und Misstrauen den Universitäten gegenüber? "Die werden nicht ausgeschlossen", betont Gromes. Wenn man an der Wissenschaft teilhaben wolle, "muss man sich wissenschaftlichen Kriterien stellen – das machen diese Leute fast nie". Die Diskussion sei daher schwierig und fast immer zwecklos. Dennoch räumt Gromes ein, als öffentliche Einrichtung habe das Institut eine Verpflichtung, sich in gewissem Rahmen mit diesen Leuten zu beschäftigen.
Seit seiner Emeritierung gibt es weniger Neuzugänge in die Sammlung. Schuld seien Websites und E-Mails – die würde man meistens ignorieren, erklärt Gromes, da die beliebige Vervielfältigung die Mühe nicht wert mache. Aber wer Zeit und Geld in einen Brief oder ein gedrucktes Buch investiert, hat noch eine Chance auf einen Platz in dem Schrank, das zeigt einer der jüngeren Zugänge: Ein Besucher des Instituts präsentierte seine Theorien Eduard Thommes, dem wissenschaftlichen Geschäftsführer des Instituts. Thommes wies auf die "Schwarze Physik" hin und warnte, auch das Buch des Besuchers würde wahrscheinlich nach kurzem Überfliegen darin landen. Das tat es auch; auf den ersten Seiten liest man den handgeschriebenen, herzlichen, aber zwecklosen Wunsch des Autors: "Bitte nicht in den Schrank!"