Gottersdorf. (jam) Als sich in der ecuadorianischen Millionenstadt Guayaquil im April die Leichen auf den Straßen häufen und die Hafenstadt ähnlich wie zuvor Bergamo in Italien als Ort des Schreckens gefürchtet ist, arrangiert sich Fanny Cabezas-Kläre gerade mit ihrem neuen Leben in Gottersdorf. Die 42-Jährige, die aus der coronagebeutelten Küstenstadt in Lateinamerika stammt, war Anfang März – noch bevor die WHO den Ausbruch zu einer Pandemie erklärte – mit ihren beiden Söhnen für einen Besuch bei Freunden nach Deutschland gekommen.
Wenige Tage später verhängte der ecuadorianische Präsident eine absolute Ausgangssperre für das ganze Land, der internationale Flugverkehr nach Ecuador kam zum Erliegen – und Fanny beschloss, sich gemeinsam mit dem 13-jährigen Matías und dem achtjährigen Benjamín eine neue Existenz in Walldürn aufzubauen.
Dass diese Entscheidung nicht als Kurzschlussreaktion fiel, sondern das Ergebnis eines langen Prozesses ist, beschreibt Fanny im Gespräch mit der RNZ. "Als ich erfuhr, dass am 17. März die Grenze schließt, wusste ich nicht, was ich machen soll", so die 42-Jährige. Ihr Rückflugticket war damit ungültig, sie hatte nur drei Tage Vorwarnung, um einen der letzten Flüge nach Ecuador anzutreten. Der hohe Ticketpreis gab schließlich den Ausschlag. Rund 3000 Euro pro Person: Das war Fanny zu teuer. Sie beschloss, abzuwarten in der Hoffnung, dass sich die Grenzen nach drei oder vier Wochen wieder öffnen. "Ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauert", sagt sie heute.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem Matías (l.) und Benjamín nicht auf dem Bolzplatz anzutreffen sind. Mit ihrer Mutter Fanny genießen sie das idyllische Gottersdorf. Foto: Janek Mayer"Guten Job zurückgelassen"
Dass sie nun mit ihren zwei Söhnen in Gottersdorf wohnt, bereut Fanny Cabezas-Kläre nicht. Sie besucht einen Integrationskurs, um ihr ohnehin schon gutes Deutsch aufzupolieren, setzt online ihr zweites Master-Studium in Guayaquil fort und schickt ihre Kinder auf Schulen in Buchen und Walldürn. Ungewohnt ist für die 42-Jährige dagegen, dass sie aktuell keinem Beruf nachgehen kann. "Ich hatte einen guten Job in Ecuador und habe viel Geld verdient", sagt sie über ihre frühere Arbeit bei einem staatlichen Stromversorger. Nun ist sie auf Hilfe angewiesen, und das belastet sie. "Ich will arbeiten, aber wegen Corona ist es schwer, einen Job zu finden", sagt Fanny.
Trotzdem ist sie natürlich sehr dankbar für die Unterstützung, die sie vonseiten des Jobcenters und der Caritas, aber auch von Privatleuten erfährt. "Wir haben sehr nette und gute Leute kennengelernt", erklärt Fanny. Da ist zum einen Vermieterin Ute Peper, die die ecuadorianische Familie etwa mit Einkaufsfahrten unterstützt, zum anderen Matthias Trefz, der Fanny mit den Formularen beim Jobcenter geholfen hat, aber auch zwei Urlauberinnen in Gottersdorf, die die Familie auf Ausflüge ins Odenwälder Freilandmuseum oder in benachbarte Städte mitnahmen.
"Finde schnell Freunde"
Matías und Benjamín haben sich ebenfalls bereits eingelebt. "Es ist nicht schwer, mit anderen Kindern zu sprechen. Ich finde schnell Freunde", sagt der Ältere der Söhne, die den Großteil ihrer Freizeit auf dem Bolzplatz verbringen. Der achtjährige Benjamín vermisst dagegen zwar die Nähe zum Meer, hat aber im Gottersdorfer See zumindest einen kleinen Ersatz gefunden. Beide sind sich einig: "Ich möchte in Deutschland bleiben!"
Obwohl Matías und Benjamín einer recht wohlhabenden Familie entstammen, war ihr Leben in der Millionenstadt Guayaquil nicht unbeschwert. Denn der Alltag in Ecuador ist gefährlich. "Die Kinder dürfen im Einkaufszentrum nicht allein auf die Toilette gehen", nennt Fanny ein konkretes Beispiel. Wie viele andere Mütter trieb sie die Angst um, dass Entführer ihre Kinder ins Visier nehmen. Zudem sind bewaffnete Überfälle auf offener Straße keine Seltenheit. "Du bremst bei Rotlicht an der Ampel und es kommt jemand mit einer Pistole und fordert dein Handy", berichtet die 42-Jährige, die Verwandte hat, die selbst Opfer der Kriminellen wurden. "Einige Leute sind schon erschossen worden, weil sie ihr Handy nicht ausgehändigt haben."
An das sichere Deutschland musste sich die junge Familie daher erst gewöhnen. Ihre Kinder gingen zunächst davon aus, dass sie nur deshalb nicht von Dieben belästigt werden, weil ohnehin fast alle Leute aufgrund der Pandemie zuhause bleiben, erzählt die 42-Jährige mit einem Schmunzeln.
Deutsche Kultur kennenlernen
"Deshalb wollte ich nach Deutschland kommen – nur noch nicht jetzt", sagt Fanny. Sie hatte ihre erste Begegnung mit dem Neckar-Odenwald-Kreis bereits 1995 als 17-Jährige bei einem Schüleraustausch. Damals kam sie für rund drei Monate bei einer Gastfamilie in Walldürn unter und besuchte das Burghardt-Gymnasium in Buchen. Eine enge Freundschaft verbindet seitdem die Ecuadorianerin sowie ihre Gastfamilie und manchen Klassenkameraden. Besonders gut in Erinnerung geblieben sind ihr Theateraufführungen an ihrer Gastschule in Buchen, bei denen sie als Souffleuse mitwirkte und so sogar ihren Namen in die Zeitung brachte.
Aufgrund dieser positiven Erfahrungen entwickelte sie vor einigen Jahren den Plan, mit ihrer Familie nach Deutschland umzusiedeln. Der Urlaub Anfang des Jahres sollte aber lediglich als erste Vorbereitung dienen, um die Kinder mit der deutschen Kultur vertraut zu machen. Wie sie sich erinnert, lief das zu Beginn nicht immer so rund, wie sie sich das erhofft hatte. Direkt nach ihrer Ankunft im März nahm sie ihre Söhne mit auf den Fastnachtsumzug in Höpfingen. Doch nicht einmal die vielen Süßigkeiten konnten Matías und Benjamín davon ablenken, dass sie sich nach ihrem 24-Stunden-Flug quer über den Erdball nichts sehnlicher wünschten als ein Bett.
Wenn mittlerweile noch etwas bei Fanny und ihrer Familie "in die Hose geht", hat das höchstens mit den Tücken des öffentlichen Personennahverkehrs oder einer exorbitanten Wasserrechnung zu tun. Letzteres haben die drei mit einem angepassten Dusch- und Badeverhalten bereits in den Griff bekommen, ersteres gehört mit etwas Routine bzw. dem Kauf eines Autos hoffentlich bald der Vergangenheit an.
Corona in Guayaquil: Friedhofsmitarbeiter tragen die sterblichen Überreste einer Person in einem Pappsarg. Foto: dpa"Schlimmer als Krieg"
Mit ihren Verwandten in Guayaquil kommunizieren die drei beinahe täglich – sei es per Kurznachricht oder Videoanruf. Die Probleme, die die Einwohner der Millionenstadt zuletzt plagten, unterscheiden sich jedoch grundlegend von denen der deutschen "Neubürger". Zwar hat sich die Lage in der Küstenstadt inzwischen entspannt, aber kurz nachdem Fanny, Matías und Benjamín abgereist waren, herrschten aufgrund der Corona-Pandemie Zustände, die der ecuadorianische Präsident als "schlimmer als Krieg" bezeichnete. Tote waren in Guayaquil tagelang in Wohnungen liegen geblieben, die Leichenhallen der Krankenhäuser waren überfüllt, und selbst auf den Straßen der Hafenstadt wurden Leichen abgelegt.
In Anbetracht solcher Schreckensmeldungen sind Fanny und ihre Familie umso froher, dass sie im idyllischen Gottersdorf eine neue Heimat gefunden haben. "Wir können die Tür aufmachen und sehen Pferde. Das hätten wir uns so nie vorgestellt", sagen die Großstädter.