Adelsheim. (ahn) "Das Leben ist gerade nicht mehr lebenswert, besonders für Menschen im hohen Alter", sagt Reinhold Haag aus Adelsheim. Er weiß, wovon er spricht, denn im letzten Juni ist er stolze 100 Jahre alt geworden. Und wie er leiden besonders alleinstehende ältere Menschen unter den Corona-Einschränkungen, denn auch für sie fällt das gesellschaftliche Leben zurzeit aus. An diesem hat Reinhold Haag vor dem Lockdown noch rege teilgenommen. Denn auch wenn er – wie er berichtet – altersbedingt die ein oder anderen körperlichen Schmerzen hat, ist er geistig noch voll auf der Höhe. Außerdem zeigt er nach wie vor großes Interesse an den Vorgängen in Adelsheim.
"Ich weiß gar nicht mehr, was im Städtchen los ist", bedauert Haag nun allerdings, nachdem der zweite Lockdown bereits rund einen Monat andauert. "Deshalb schätze ich es sehr, dass ich morgens die Rhein-Neckar-Zeitung lesen kann." Dabei interessierten ihn vor allem die erste Seite mit den aktuellen Corona-Informationen und der Lokalteil. Nach der Zeitungslektüre ist der Alltag für den 100-Jährigen allerdings relativ ereignislos. Denn viele Aktionen – vor allem gesellschaftlicher Natur –, die er vor Corona gerne unternommen hat, fallen nun flach.
"Vor Corona war ich sehr aktiv", sagt der rüstige Senior. So war er in einigen Vereinen tätig, darunter im Sportverein und im Gesangsverein. "Ich bin sehr lange beim Singen dabei gewesen." Auch das gesellschaftliche Miteinander mit seinen Sangeskollegen habe er sehr genossen.
Außerdem sei er vor Corona einmal in der Woche zu "Schlaraffia Am Odinwald 395" in Mosbach gefahren, um dort an den Treffen teilzunehmen. Und richtig: Reinhold Haag ist selbst gefahren. "Ich habe noch meinen Führerschein und ein Auto", berichtet er. In letzter Zeit sei er allerdings nur noch bis Schefflenz gefahren, wo ihn dann ein Bekannter mitgenommen hätte.
"Durch die gesellschaftlichen Veranstaltungen ist man mit den ganzen Leuten etwas verbunden gewesen", sagt der in Esslingen Gebürtige und ergänzt: "Ich habe mich nie zurückgezogen."
Dann kam allerdings Corona mit all seinen Einschränkungen, die auch Haag schwer treffen. "Ich vermisse das gesellschaftliche Leben", sagt er. "Vor Corona hatten wir noch ein gutes Leben."
Für den 100-Jährigen war das Leben indes nicht immer leicht. Als er 1920 auf die Welt kam, war es "eine arme Zeit. Überall herrschte Not und Elend, und die Arbeitslosigkeit war sehr groß." Die Wirtschaftskrise zum Ende der Weimarer Republik machte die Lage nicht besser. Und nachdem er als Schriftsetzer ausgelernt hatte, kam der Zweite Weltkrieg.
"Ich wurde 1940 gleich eingezogen", erinnert sich Haag. Er gehörte den Truppen an, die damals als erste in Russland eingefallen sind. Anschließend wurde er zum Gebirgsjäger umgeschult und kam nach Finnland.
Hier wurde er in die deutsche Botschaft in Helsinki einberufen und verkehrte anschließend "in den höchsten Familien in Finnland" – und zwar als Spion. "Ich musste Berichte über die Ansichten der dortigen Leute liefern", erzählt er. "Aber mir ging es gut."
Das änderte sich allerdings, als er als Reserveoffizier ausgebildet werden sollte. Dazu wurde er am 20. April 1945 mit einem Frachter in die norwegische Stadt Narvik gebracht. Abfahrt war um 8 Uhr. "Um 10 Uhr gab es einen Mordskrach", berichtet Haag. Der Frachter war auf eine Mine gelaufen. "Das Schiff senkte sich nach vorne. Viele Kameraden sind dem Wasser ausgewichen, ich bin allerdings ins Wasser rein."
Das war seine Rettung. Denn dort erwischte er ein kleines Rettungsboot. Der Frachter sank, wobei durch den Sog ein Loch entstand, "in das ein Haus hineingepasst hätte". Vor dem Strudel konnte sich Haag retten, allerdings "war es eiskalt, es schneite und schließlich wurde es Nacht." Endlich kam ein deutscher Kreuzer, der die Verunglückten aufnahm. "Ich habe mich mit letzter Kraft hineingezogen. Ich hätte keine zwei Minuten mehr durchgehalten."
Nach einem Jahr in Kriegsgefangenschaft in Frankreich kam er nach Deutschland zurück. In Adelsheim hatten die Nazis seinem Vater die Weiterführung des "Bauländer Boten" verboten. Reinhold Haag gründete daraufhin den "Bauländer Boten" als Wochenblatt mit und arbeitete als Druckermeister bis zu seinem 80. Lebensjahr.
"In Adelsheim fühle ich mich wohl", sagt er. Das beruht auf Gegenseitigkeit, denn auch die Adelsheimer können sehr gut mit ihm. Das merkt man daran, dass – gerade im Corona-Lockdown – viele Mitglieder von Vereinen, in denen er früher aktiv war, "vorbeikommen und nach mir schauen." Hauptsächlich kümmern sich sein Neffe und dessen Frau Martina aus Mosbach um ihn. "Ich werde treu umsorgt. Eigentlich kommt jeden Tag jemand zu mir."
Und was macht Reinhold Haag während des Corona-Lockdowns? "Ich beobachte vor allem die Entwicklung der Baustelle gegenüber." Dort entstehen zwei Wohnhäuser mit jeweils sechs Wohnungen. "Besonders zu der bauausführenden Firma Schleier aus Zimmern habe ich ein sehr schönes Verhältnis", berichtet Haag. Außerdem schaut er öfter Fernsehen, vor allem Themen rund um Politik und Corona. "Was bleibt einem auch anderes übrig?", sagt Haag mit einem Achselzucken. Darüber hinaus geht er ab und zu spazieren.
"Das Alleinsein ist nicht schön", meint der Senior, dessen Frau mit 70 Jahren verstorben ist. "Ich finde die jetzige Zeit so schlimm wie die Kriegszeit."
Wie alle hofft auch Haag, dass die Corona-Zeit bald vorbei ist. Die Hoffnung bleibt, dass der Druckermeister dann im Juni seinen 101. Geburtstag im gebührenden Rahmen feiern kann. "Ich hoffe, ich erlebe das noch", meint Haag, der noch sein Geheimnis für sein langes Leben verrät: "Jeden Tag ein Viertel Wein." – Und damit lässt sich ja auch Corona besser ertragen.