Natalia Lüdtke betreibt im Internet einen Suchblog für ungelöste Morde. Foto: R. Busch
Von Rüdiger Busch
Buchen. Tag für Tag werden in Deutschland rund 250 Personen als vermisst gemeldet. Laut Bundeskriminalamt sind 80 Prozent der Fälle innerhalb eines Monats geklärt. Der Anteil der Personen, die länger als ein Jahr vermisst werden, bewegt sich bei nur etwa drei Prozent. Abgesehen von einigen wenigen spektakulären Fällen wie dem der damals neunjährigen Peggy Knobloch aus Oberfranken, die seit 14 Jahren spurlos verschwunden ist, lässt die öffentliche Aufmerksamkeit in der Regel schnell nach. Um die Schicksale der Vermissten vor dem Vergessen zu bewahren, hat die Buchenerin Natalia Lüdtke vor sechs Jahren eine Internetseite dazu ins Leben gerufen: "German Missing", einen Suchblog für Vermisste und ungeklärte Morde.
Natalia Lüdtkes Heimat ist die Ostsee-Insel Fehmarn. Vor zwölf Jahren ist die heute 31-Jährige nach Buchen gezogen, hat hier die Schule beendet und eine Ausbildung im Gesundheits- und Sozialwesen absolviert. "Ich war schon immer an Kriminalfällen interessiert", berichtet sie im Gespräch mit der RNZ, "und ich durfte als Kind mit meiner Mutter ,Aktenzeichen XY’ anschauen."
Es waren Vermisstenfälle wie der der damals elfjährigen Sandra Wißmann oder der bei ihrem Verschwinden 14 Jahre alten Georgine Krüger (beide aus Berlin), die Natalia Lüdtke nicht mehr aus dem Kopf gingen und über die sie jeden verfügbaren Artikel las. Doch es war nicht die Sensationslust, die sie dabei angetrieben hat, sondern das Interesse an den Schicksalen der Vermissten und deren Angehörigen. "Mich hat immer interessiert, was aus den Fällen geworden ist. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass sie aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden, obwohl sie noch nicht gelöst sind." Die Idee war geboren: "Ich wollte, dass diese Fälle nicht vergessen werden und habe mich dann entschieden, einen Blog über diese Themen zu schreiben."
Was sich daraus entwickelt hat, war anfangs nicht abzusehen. In den Anfangszeiten verzeichnete ihre Seite etwa 2000 Zugriffe im Moment - heute sind es 50 000 bis 60 000. Trotz der vielen Klicks verzichtet sie auf ihrer Seite komplett auf Werbung: "Ich fände es nicht richtig, mit dem Leid der Ermordeten und Vermissten Geld zu verdienen."
"Nach und nach haben Angehörige Kontakt zu mir aufgenommen und um Hilfe gebeten", berichtete die Bloggerin. Sie vermittelt Kontakt zu anderen Angehörigen, zu Anwälten, Experten oder weiteren Initiativen, die sich mit Vermissten- oder Mordfällen befassen. Der Austausch mit anderen Betroffenen, die Ähnliches durchmachen, würde vielen Angehörigen gut tun, weiß Natalia Lüdtke, die auch mit praktischen Hinweisen hilft.
"Für die Angehörigen ist es das Wichtigste zu sehen, dass ihre Kinder nicht vergessen werden", weiß Natalia Lüdtke. Und dass es womöglich noch Hoffnung gibt, das Verschwinden oder den Mord aufzuklären. Auch wenn im Einzelfall zehn, 20 oder 30 Jahre vergangen sind, ist eine Aufklärung eines Verbrechens doch immer noch möglich: "Nach so langer Zeit kann es - etwa aus dem Umfeld des Täters - trotzdem noch zu neuen Hinweisen kommen." Etwa wenn Zeugen damals aus Angst oder Unwissenheit geschwiegen hätten. Zu wissen, was geschehen ist, bringe den Eltern ihr Kind zwar nicht zurück, "aber es gibt ihnen endlich Gewissheit".
Ein Fall, der sie besonders beschäftigt, ist der Mord an der Schwesternschülerin Frauke Liebs aus Paderborn, die während der Fußall-Weltmeisterschaft 2006 auf mysteriöse Weise verschwand und sich in den ersten Tagen noch bei ihren Angehörigen meldete. Man ist erstaunt, wie viele Fakten Natalia Lüdtke sofort greifbar hat, welche Details aus den Veröffentlichungen über die Fälle sie gespeichert hat. "Ich denke eben viel darüber nach und suche Antworten auf die offenen Fragen", erklärt sie.
Die Erinnerung an die Opfer wachhalten und die Hoffnung auf den einen Zeugen, der die Ermittlungen wieder in Gang bringt - das ist für Natalia Lüdtke der Antrieb, sich um ihren Blog zu kümmern. Etwa drei bis vier Stunden opfert sie täglich dafür: Sie sucht im Internet nach Fällen, die sie auf ihre Seite nehmen könnte, sie tauscht sich mit anderen Initiativen aus und ergänzt Suchmeldungen der Polizei um zusätzliche Infos.
Auch zwei ungeklärte Mordfälle aus der Region stellt sie auf ihrer Seite vor: die Morde an Christine Piller aus Aglasterhausen und an Gabriele Pfeiffer aus Gommersdorf.
Ist es eigentlich belastend, sich in seiner Freizeit so intensiv mit schrecklichen Verbrechen und mysteriösen Vermisstenfällen zu beschäftigen? "Ich kann das eigentlich ganz gut trennen", sagt Natlia Lüdtke, "aber so manches Schicksal lässt mir doch keine Ruhe." Vor allem Vermisstenfälle würden sie umtreiben. Immer wieder stelle sie sich dann die entscheidenden Fragen: "Was ist passiert? Lebt die junge Frau noch? Weshalb hat niemand etwas gesehen?"
Auch wenn es bei den meisten Fällen auch nach vielen Jahren darauf keine Antworten gibt, so ist Natalia Lüdtkes Arbeit nicht umsonst. Im Gegenteil: Dazu beizutragen, dass die Schicksale der Vermissten nicht vergessen werden, ist von unschätzbarem Wert.
Info: germanmissing.blogspot.de