Im Verlauf einer Gedenkstunde verlegte Gunter Demnig die Stolpersteine. Sie erinnern an drei Weinheimer Opfer der "Euthanasie" - der systematischen Ermordung kranker oder eingeschränkter Menschen. Foto: Kreutzer
Von Günther Grosch
Weinheim. "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist." Ein Zitat aus dem Talmud stand am Beginn der jüngsten Verlegung von drei jeweils zehn mal zehn mal zehn Zentimeter großen "Stolpersteinen". Die darauf verankerten Messingplatten erinnern an die Schwestern Dorothea, Eva und Katharina Zöller, die im Mühlweg 10 ihren letzten frei gewählten Wohnsitz hatten.
Als spätere Bewohnerinnen des Kreispflegeheims an der Viernheimer Straße - des heutigen GRN-Betreuungszentrums - waren sie 1940 im Verlauf der sogenannten T4-Euthanasie-Aktion von den Nationalsozialisten verschleppt und wenig später ermordet worden.
Rund 70 Menschen, unter ihnen auch Alt-OB Heiner Bernhard, hatten sich am gestrigen Dienstag vor dem ehemaligen Wohnsitz der drei Schwestern eingefunden. Dieser liegt zwischen Hildebrand’scher Mühle und Peterskirche.
1990 hatte der Künstler Gunter Demnig mit seinem Projekt "Stolpersteine" begonnen, erläuterte Stadtarchivarin Andrea Rößler. Das Ziel: die Erinnerung an die Verfolgung der Juden, der Sinti und Roma, der politisch Andersdenkenden, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und an die Opfer der "Euthanasie" im Nationalsozialismus lebendig zu halten.
Mehr als 70.000 Erinnerungssteine hat Demnig seitdem in 24 Ländern verlegt, er schuf das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Für den 75.000. Stolperstein, der am 29. Dezember verlegt werden soll, hat sich der Künstler etwas Besonderes ausgedacht: Der Stolperstein findet seinen Platz in Memmingen, vor dem Haus eines von den Nazis ermordeten Juden. Heute wohnt die Memminger AfD-Vorsitzende darin.
Die "Ausmerzung" unheilbar Kranker und die Apostrophierung von deren Ermordung als "Gnadentod" waren Mittel nationalsozialistischer Politik zur Umsetzung der "Rassenhygiene", erinnerte Rößler an die zu diesem Zweck erstellten sechs Vernichtungsanstalten. Grafeneck auf der Schwäbischen Alb und Hadamar bei Limburg zählen zu den bekanntesten. Aus der Kreispflegeanstalt Weinheim waren im Oktober 1940 66 Patienten nach Grafeneck "verlegt" worden.
Grafeneck ist ein bis heute eher abgelegenes Schlossgrundstück auf den Höhen der Schwäbischen Alb, in dessen Umgebung man nicht zuletzt Pferdefreunde findet: wegen des nahe gelegenen Haupt- und Landesgestüts Marbach. In Grafeneck selbst gibt es eine soziale Einrichtung, außerdem befindet sich hier ein Denkmal, das an die Opfer des NS-Terrors - begangen an den Wehrlosesten unter uns - erinnert.
Sabine Zöller recherchierte das Schicksal ihrer drei Großtanten, die 1940 von den Nazis ermordet wurden. Foto: Kreutzer
Zu diesen Opfern gehörten auch Dorothea (1891-1940) und Eva Zöller (1898-1940), die noch am Tag ihrer Ankunft auf furchtbare Weise ermordet wurden. Katharina, die dritte Schwester, durfte zunächst in der Kreispflegeanstalt bleiben, ehe sie nach Auflösung der Weinheimer Einrichtung in Jahr 1943 in die Heilanstalt Geisingen bei Tuttlingen kam. Dort starb sie angeblich schon zwei Wochen später. "Vermutlich ermordet, durch Medikamente oder Unterernährung."
Die Informationen über die Ereignisse im Kreispflegeheim Weinheim sind der Doktorarbeit von Marie Berger zu verdanken. Der Titel: "Das Kreispflegeheim Weinheim im Nationalsozialismus". Die Heidelberger Politikwissenschaftlerin Sabine Zöller, ehemalige Schülerin an der Multschule (heute: Dietrich-Bonhoeffer-Schulverbund) hat das Schicksal ihrer drei Großtanten in den vergangenen Jahren recherchiert. Mithilfe überlieferter Unterlagen und Gespräche mit ihrem damals zehn- und heute fast 90-jährigen Vater Werner konnte sie das Verbrechen an ihren Tanten weitgehend aufklären.
"Sie sind weggekommen", so hatte der bei der Stolpersteinverlegung gleichfalls anwesende Vater die ersten Fragen und Nachforschungen seiner Tochter zunächst abgewehrt. Der selbsterstellte Familienstammbaum endete bei den Großtanten Eva, Dorothea und Katharina zunächst mit "drei Strichen im Nichts".
Sabine Zöller ließ sich nicht beirren. Durch beharrliches Nachbohren kam sie dem Geschehen auf die Spur, das mit der Verlegung der Stolpersteine jetzt ein vorläufiges Ende fand. "Das Lüften des Familiengeheimnisses war ein schmerzhafter Weg", beschreibt Sabine Zöller ihre Gefühle als "verborgene Belastung". Ihr Appell an die Enkelgeneration, in deren Familien Ähnliches geschah: "Nehmt euch des Themas an. Ihr könnt nur gewinnen. Verloren haben die Getöteten schon vorher." Durch die Stolpersteine kehrten sie nun in die Gesellschaft zurück.
"Erinnern braucht einen Ort und Namen", verdeutlichte Thomas Stöckle, Leiter der Gedenkstätte Grafeneck. Von den 10.600 in Grafeneck ermordeten Kindern, Frauen und Männern seien auch nach mehr als sieben Jahrzehnten erst rund 10.000 namentlich bekannt. "Erinnerung braucht deshalb auch die Menschen, die da sind." In Weinheim und im Ortsteil Lützelsachsen erinnern nun 48 Stolpersteine an die Verbrechen der Naziherrschaft.
Das Bläserquartett der Peterskirche mit Miriam Ott, Helen Schwiderke, Bernhard Richter und Simon Langenbach umrahmte das gut halbstündige Gedenken mit dem "Andante" von Johann Sebastian Bach und Klezmer-Klängen von Michael Schütz.