Von Annette Steininger
Hirschberg-Großsachsen. Volker Langbein lässt mehr und mehr Papier aus der Rolle gleiten. Auf beeindruckenden 4,20 Metern ist der Stammbaum seiner Familie mütterlicherseits handschriftlich aufgezeichnet. Im Rahmen seiner Recherche über seine Vorfahren erhielt er die von einem Vetter seiner Mutter erstellte Rolle. "So etwas hatte ich auch noch nie zuvor gesehen", sagt der Großsachsener.
Die ewig lange Rolle ist bei Weitem nicht die einzige Besonderheit, auf die der 80-Jährige bei seiner Ahnenforschung gestoßen ist. Denn die Geschichte der aus Freudenstadt im Schwarzwald stammenden Imbergers, so der Name des Familienzweigs, ist eng mit derjenigen der Tempelgesellschaft verbunden – einer Religionsgemeinschaft, die ihren Ursprung im württembergischen Pietismus hat.
Pietistischer als der Pietismus
Ein um 1900 aufgenommenes Bild der Familie Imberger in Palästina. Foto: privatUrsprünglich kamen die Imbergers aus Salzburg. Im Jahr 1732 verwies sie allerdings der Erzbischof des Landes – denn sie waren Protestanten. "Im Schneeregen standen sie an der Landesgrenze, ihnen wurden nur zwei Tag gegeben", schildert Langbein die dramatische Situation seiner Vorfahren. Der katholische bayerische Herzog wollte sie nicht, der evangelische württembergische aber nahm sie auf. Die Imbergers ließen sich in Freudenstadt nieder und sorgten für zahlreichen Familienzuwachs. "Sie waren damals schon mit vielen Kindern gesegnet", merkt der Ahnenforscher mit Blick auf die lange Stammbaumrolle an – und lacht.
Doch richtig glücklich wurden die in ihrer neuen Heimat zumeist recht fundamentalistisch gewordenen Imbergers in ihrer neuen Heimat nicht. "Sie waren pietistischer als der Pietismus", erzählt Langbein. Sie hielten gar die württembergische evangelische Landeskirche für "eine gottlose Organisation". Ihnen wurde klar: "Hier können wir nicht leben." Sie wollten dorthin, wo Jesus bald wieder erscheinen sollte, nämlich nach Jerusalem. Die Vorfahren des Großsachseners stellten einen Auswanderungsantrag beim württembergischen König, der ihn auch genehmigte. Vom Einreiseantrag ins damals türkische Palästina, den sie in Konstantinopel einreichten, hörten sie allerdings nie wieder etwas.
Also beschlossen sie 1868 , auf eigene Faust loszureisen. Zunächst landeten sie am Strand vor dem damals noch nicht existierenden Haifa, heute die drittgrößte Stadt Israels. Hier befand sich die erste Siedlung der Tempelgesellschaft gerade im Aufbau.
Doch dort hielt es die strenggläubigen Imbergers nicht, sie ließen sich im Rephaim-Tal vor den Mauern Jerusalems nieder, schlossen sich dort der zweiten Templerkolonie an und bauten ihre Häuser. Sie blieben deutsche Staatsangehörige, was zur Folge hatte, dass die später in Palästina regierenden Engländer sie im Zweiten Weltkrieg internierten und schließlich 1943 nach Australien deportierten, wo die Imbergers nach dem Krieg eine neue dauerhafte Heimat fanden.
Heute hat Langbein gut etwa 100 Verwandte in Sidney und 200 in Melbourne. Bereits zu seiner Promotionszeit beschloss der Jurist daher, sie in Australien zu besuchen. Auch heute noch hält er Kontakt ins ferne Ausland.
Doch wie kam es, dass sich ein Teil der Geschichte der palästinensischen Imberger-Familie in Deutschland fortsetzte? Nachdem sich Langbeins Ur-Ur-Großeltern in Jerusalem niedergelassen hatten, baute sein Ur-Großvater zusammen mit seinen Brüdern eine Wein- und Fruchthandlung auf. Besagter Ur-Großvater vertrug das Klima im Heiligen Land allerdings nicht und beschloss, mit seiner Familie nach Deutschland zurückzukehren. "Mein Großvater ist noch in Jerusalem geboren und war ein Jahr alt, als sie zurück auswanderten", sagt Langbein. Wenn er seine Familiengeschichte erzählt, werde er oft gefragt, ob er jüdischen Glaubens sei. Nein, das sei er nicht, antwortet er dann: "Aber ich bin ein schwäbischer Palästinenser."
Wein- und Fruchthandlung mit Produkten aus Palästina
Bewegend war für Volker Langbein der Besuch des Templerfriedhofs in Jerusalem, wo seine Ur-Ur-Großeltern und zahlreiche andere Imberger begraben liegen. Foto: privatEin Stück Palästina blieb nämlich auch in Deutschland erhalten. So eröffnete Langbeins Ur-Großvater in Bad Cannstatt eine Wein- und Fruchthandlung mit Produkten aus Palästina. Die in Jerusalem gebliebenen Familienmitglieder unterstützten von dort aus den kleinen Betrieb im fernen Deutschland. Bis zum Tod von Volker Langbeins Großvater, sprich bis in die 1950er Jahre, existierte die "Weingroßhandlung Gebr. Imberger".
Seine Mutter erzählte ihm immer viel von der Familie aus in Palästina. "Das hat sich bei mir so festgesetzt", sagt Volker Langbein. Und dieses Wissen, diese Erinnerung will er festhalten, aufschreiben, um sie weiterzugeben an die Nachkommen. Dazu spricht er mit Verwandten, die noch Erinnerungsstücke und Aufzeichnungen haben oder fährt ins Archiv der Tempelgesellschaft in Stuttgart. Hier kam es letztes Jahr auch zu einer lustigen Begebenheit.
Dort stellte sich nämlich heraus, dass er nicht der Einzige ist, der derzeit über die Geschichte der Familie Imberger forscht. Ein Archivmitarbeiter erzählte Volker Langbein, dass tags zuvor bereits jemand dort gewesen war und nach Informationen fragte. Es stellte sich heraus, dass es ein entfernt verwandter Imberger aus dem 1868 in Freudenstadt gebliebenen Familienteil war, der wiederum auch den großen Stammbaum für ihn hatte.
Einer der Höhepunkte in seiner Ahnenforschung stellte der Besuch Jerusalems im vergangenen Jahr dar. Es sei "ein sehr bewegendes Gefühl" gewesen, als er das in der Rephaim Street noch existierende und als "Imberger House" gekennzeichnete Haus seiner Vorfahren betreten habe, schwärmt Langbein.
Auch das Imberger-Haus seiner Vorfahren besuchte der Großsachsener im Rahmen seiner Reise im vergangenen Jahr. Foto: privatDas Imberger-Haus gehört heute einer amerikanisch-jüdischene Stiftung, deren Leiter Martin Weyl darin sein Büro hat. Weyl war bis vor Kurzem Leiter des großen Israelischen Nationalmuseums gewesen. Er lud Langbein, seine Frau und ein befreundetes Eheppar aus Hohensachsen freundlich zur Besichtigung des Hauses ein. Sehr beklemmend sei es geworden, als Weyl erwähnte, er habe als Kind das KZ Theresienstadt überlebt. "Da bleiben einem als (gleichaltrigen) Deutschen die Worte im Hals stecken" meint Langbein.
Bewegender Besuch Jerusalems
Bewegend war für den Großsachsener auch der anschließende Besuch des Templerfriedhofs in Jerusalem, wo seine Ur-Ur-Großeltern und zahlreiche andere Imberger begraben liegen.
Bis der Großsachsener all diese Erinnerungen in Worte gefasst hat, wird es wohl noch dauern. Und dann? "Alle vier meiner Familienstämme haben eine spannende Geschichte", sagt der Jurist im (Un-)Ruhestand mit einem Augenzwinkern.