Flucht in den Westen

So kamen die Friedrichs vor 30 Jahren aus der DDR nach Heidelberg

Manchmal sind es Sätze, die zu einem Entschluss führen - Hier die neue Heimat gefunden

30.09.2019 UPDATE: 06.10.2019 06:00 Uhr 6 Minuten, 57 Sekunden

Herbst 1989: Die Friedrichs (und ein befreundetes Kind) im Westen. Am Trabi ist schon das "D"-Schild angebracht. Foto: privat

Von Alex Wenisch

Heidelberg. Vielleicht wären sie ohne ihren Vermieter und ohne seine Mutter nicht gegangen. Wer weiß? Aber manchmal sind es Sätze, sind es Begegnungen, die prägen, die im Gedächtnis bleiben. Und die dann zu einem Entschluss führen.

"Ihr werdet hier um euer Leben betrogen", ist so ein Satz. Holger Friedrichs Mutter hat dies ihrem Sohn immer wieder gesagt. Oder: "Geht, so lange ihr noch jung seid!" Der Satz fiel in einem Gespräch im Urlaub. Es ist Sommer 1989. Christine und Holger Friedrich sind mit ihren Kindern in einem Ferienbungalow in Thüringen, als sie hören, dass der Eiserne Vorhang in Ungarn Risse bekommt. Das "Paneuropäische Picknick" am 19. August nutzen Hunderte DDR-Bürger, um in den Westen zu fliehen. Die Friedrichs überlegen. Sollen wir auch?

"Wir waren schon lange unzufrieden", erzählt Holger Friedrich. Schon als Schüler habe er die Enge, die Bevormundung gespürt. Nach dem Abitur musste er zwei Jahre in die Chemieproduktion - und weil er sich weigerte, drei Jahre zur Armee zu gehen, folgten weitere lange Monate in der Produktion, quasi "auf Bewährung". Erst dann durfte er in Meißen, später in Berlin studieren. Diese Erfahrung einer ideologisch gelenkten Biografie, die teilt er mit vielen anderen DDR-Bürgern.

Auch mit Christine, die trotz eines 1,1er-Abis nur über Umwege studieren durfte - weil ja der Vater schon Akademiker, nämlich Arzt, war. Ende der 80er arbeitet die 30-Jährige als Pressefrau am Theater in Dessau. Sie schreibt eine Ankündigung der Inszenierung von "Romeo und Julia" und ruft darin zum Abbau des Feinbilds Westdeutschland auf. Das ist zu viel Systemkritik. Ab jetzt wird ihr das Leben schwer gemacht. "Ich durfte nichts mehr schreiben, ohne kontrolliert zu werden. Ich durfte noch nicht mal mehr kopieren ohne Aufsicht."

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Immer wieder unterhalten sich Christine und Holger, überlegen, wie sie hier wegkommen. Natürlich im Verborgenen, immer nur draußen. Denn dass ihre Wohnung verwanzt ist, da sind sich die beiden sicher. Nur Holgers Mutter weiß von den Plänen. Sie wollen, dass ihre Kinder in einem freien Land aufwachsen. Gleichzeitig sind es auch die Kinder, die die beiden von einer spektakulären Flucht, wie sie andere in den 80ern gewagt hatten - mit Ballons oder Booten über die Ostsee, beispielsweise -, abhalten. "Wir hatten Angst um die Kinder. Denn die wären dann zur Zwangsadoption gegeben worden."

Und dann kommt der 10. September. Die Familie ist wieder zurück in Dessau. "Da hörten wir im Westradio, dass der Schießbefehl an der ungarisch-österreichischen Grenze aufgehoben wird." Das ist die Chance, denken sich die beiden. "Jetzt - oder nie!" Am nächsten Morgen steht Christine im "Staatlichen Reisebüro", um ein Visum nach Ungarn zu beantragen. Als Grund der Reise nennt sie die Hochzeit eines befreundeten Paares in Budapest. Wird dies der Knackpunkt der Flucht? Das Paar in Budapest gibt es zwar, es sind Freunde von Holgers Eltern. Aber das Ja-Wort wollen die sich nicht geben. Wenn das irgendwer überprüft, sind die Friedrichs aufgeflogen.

Aber möglicherweise hat der DDR-Staatsapparat in den wilden Wochen der anstehenden Friedlichen Revolution Anderes zu tun, als eine Hochzeitseinladung zu prüfen. Jedenfalls ist es gut, dass die Friedrichs schnell im "Reisebüro" sind, denn einen Tag später werden schon keine Visaanträge mehr entgegengenommen. Indes: In der Tasche hat die junge Familie ihre Reisedokumente damit noch nicht. Es folgen lange Wochen des Wartens, des Bangens, des Hoffens.

Der Stempel im Pass, mit dem sie an der DDR-Grenze ausgebürgert wurden. Foto: privat

Und am 5. Oktober liegt das ersehnte Dokument dann endlich im Briefkasten. Visum zur Besuchsreise nach Ungarn. Jetzt muss alles schnell gehen, aber doch so unauffällig wie möglich.

Die Friedrichs gehen freitags noch zur Arbeit. Alles wie gewohnt. Holger beendet an der Pädagogischen Hochschule, an der er mittlerweile arbeitet, sein Seminar. Zu seinen Studenten hat er ein freundschaftliches Verhältnis, doch jetzt geht er ohne ein Wort des Abschieds. Das sei ihm wirklich schwergefallen, erinnert er sich zurück. Später, nach dem Mauerfall, erhält er einen Brief von seinen damaligen Studenten: "Warum sind Sie gegangen? Sie waren der Einzige, mit dem man hier noch vernünftig reden konnte." Das rührt Holger Friedrich noch heute. "Aber ich konnte nicht anders."

Also kratzt die junge Familie ihr letztes DDR-Geld zusammen und tauscht es in ungarische Forint. Eingepackt wird auch ein Tee-Service im Bauhaus-Stil - als Geschenk für die fingierte Hochzeit. Der Grund für die Reise soll ja echt wirken. Und Holger und Christine können nicht abschätzen, ob sie an der Grenze nicht doch kontrolliert werden. Also lassen sie auch alles zurück, was auf eine Flucht hindeuten könnte, zum Beispiel ihre Zeugnisse.

Erst als es dunkel wird, steigen sie in ihren beigefarbenen Trabi und fahren los. Es ist der 6. Oktober, heute vor genau 30 Jahren. Ironischerweise der Vorabend der 40-Jahr-Feier der DDR. "Wir fuhren aus Dessau raus", erzählt Christine, "und hinter uns explodierten die Feuerwerksraketen am Nachthimmel." Die beiden Kinder, sieben und vier Jahre alt, schlafen auf der Rückbank. Was dann folgt, ist ein 24-Stunden-Roadtrip mit nur einem Ziel: Freiheit! Voller Hoffnung. Aber Angst und Misstrauen sind ebenfalls im Gepäck.

Es geht Richtung Süden. Um Mitternacht erreicht die Familie den DDR-Grenzübergang zur damaligen Tschechoslowakei. Hier wird es kritisch. Sie wissen: Wenn sie auffliegen, dann hier. "Wir hatten unglaubliche Angst", erinnern sich Holger und Christine. Die Polizei inspiziert den Trabi. Aber Holger Friedrich reagiert cool. Als der Grenzer das Wageninnere nach Verdächtigem durchsuchen will, deutet der junge Vater auf den schlafenden Nachwuchs auf der Rückbank. "Ich lass sie gerne suchen, aber dann haben sie hier zwei schreiende und weinende Kinder!" Das wirkt. Der Polizist lässt nach.

Christine wird derweil in die Grenzbaracke geholt. Visum-Kontrolle. Was sie in Budapest wollen? Christine rechnet mit Schikanen. Das war man ja gewohnt. "Ich dachte nur: Ruhig bleiben!" Und sie erinnert sich an die Schauspieler am Dessauer Theater und wie die auf der Bühne immer in ihren Rollen blieben. Also spielt sie ihre Rolle, erzählt die Geschichte von der Hochzeit, von dem befreundeten Paar, vom Tee-Service. Und hofft intensiv, der Grenzer würde nicht nachforschen oder gar in Budapest anrufen.

Falsches Hochzeitsgeschenk: Das Tee-Service im Bauhaus-Stil. Foto: privat

Aber das tut er nicht. "Auf Wiedersehen!", den Satz des Beamten, jede Silbe betont, hat Christine Friedrich heute noch im Ohr. Nach langen 50 Minuten dürfen sie weiterfahren mit ihrem Reisestempel im Pass. Wie sie später erst erfahren, sind sie damit offiziell ausgebürgert. Aber das hätte sie auch nicht gestört - "zurück wollten wir ja nicht."

Stattdessen fahren sie in ihrem Trabi durch die Nacht. Es regnet in Strömen. Den Weg hatten sie daheim schon geplant - heimlich unter dem Küchentisch auf einer Karte aus den 30ern, die Holger noch von seinem Vater hatte. Mitten im schlafenden Prag betankten sie ihr Auto aus einem Benzinkanister. In der dortigen deutschen Botschaft hatten im August Tausende DDR-Bürger Zuflucht gesucht und durften ab dem 30. September ausreisen. Für die Friedrichs keine Option mehr. Also weiter. In den Mittagsstunden des 7. Oktober erreichen sie Ungarn. Pause in dem kleinen Städtchen Rajka. "Für die getauschten Forint gibt es Szegediner Gulasch zum Mittagessen", erinnert sich Christine und lacht.

Und dann liegt die österreichische Grenze vor ihnen. Eine weitere Hürde. Ist sie offen? Wird man tatsächlich nicht schießen? Lässt man sie passieren? Die Ungewissheit fährt mit. Auf Parkplätzen stehen weitere Trabis und Wartburgs. Alle hier haben das gleiche Ziel, das ist klar. Aber geredet wird nicht miteinander. Man weiß ja nie, wer das ist, da im Auto nebenan. Die Ungewissheit, das Misstrauen sitzt tief.

Dann der Grenzübergang Nickelsdorf nach Österreich. Der lang ersehnte Schritt nach Westeuropa. In die Freiheit. Er verläuft überraschend unspektakulär. Kurze Passkontrolle, ein "Willkommen" und "Gute Fahrt!" Holger Friedrich erinnert sich: "Kurz hinter der Grenze war ein Parkplatz, da bin ich rausgefahren." Und da lagen sie sich in den Armen, lachten, weinten, jubelten.

Von der Fahrt Richtung deutscher Grenze haben sie noch die große Erleichterung und die Freude in Erinnerung, die vielen Lkw-Fahrer, die ihnen entgegenkommen und ihnen begeistert zuwinken. Sie waren mit dem Trabi ja leicht als DDR-Flüchtlinge auszumachen. Und die enorme Hilfsbereitschaft. "Im ersten Dorf nach der Grenze gab es Essen und Treibstoff für uns." Am Abend des 7. Oktober, gut 24 Stunden nachdem sie in Dessau losgefahren waren, erreichen die Friedrichs Westdeutschland.

Und der erste Schreckmoment folgt unmittelbar. Kaum im Auffanglager Grafenau angekommen, spricht sie ein Mann vom Verfassungsschutz an. In der DDR hätte ein solcher Kontakt nichts Gutes bedeutet. Ihnen rutscht das Herz in die Hose. Doch der Mann fragt die junge Familie: "Wo wollen Sie hin? Sie müssen sich entscheiden." Darauf haben die jungen Eltern keine Antwort. "Man war es ja auch gar nicht gewohnt, selbst zu entscheiden", sagt Holger Friedrich. Als Jugendliche hatte Christine mal in einem Länderlexikon ein Bild vom Heidelberger Schloss gesehen, das ihr gefallen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben können die Friedrichs eine freie Entscheidung treffen. Und sie sagt: "Nach Heidelberg!"

Ihr erstes Anlaufziel in Heidelberg: Christine und Holger Friedrich am Ebert-Platz. Foto: Privat

Und so kommt es, dass die junge Familie - während in Leipzig am 9. Oktober 70.000 Menschen auf die Straße gehen und friedlich nach Reformen rufen - Richtung Heidelberg fährt. Tags darauf erreicht sie ihr Ziel. Das Ankunftszentrum für DDR-Flüchtlinge liegt am Ebert-Platz im ehemaligen Armenspital. Das passt. Die vier haben nichts, außer die paar Habseligkeiten, die in ihr kleines Auto passen. Das letzte Geld war für Gulasch draufgegangen. Holger fährt also in die Plöck, findet keinen Parkplatz, stellt das Auto irgendwo ab. Und das erste Begrüßungsgeschenk, das er so bekommt, ist - ein Strafzettel wegen Falschparkens.

Was sie aber auch erleben, ist eine enorme Hilfsbereitschaft. Ein Schwarzes Brett im Haus am Ebert-Platz: "Was brauchen Sie?", steht darauf. "Die Leute schenkten uns Radios, Fernseher, Kleidung", erinnert sich Christine, noch heute halb verwundert. Und es gibt Stellenangebote. Jede Menge Bäcker, Fleischer, Installateure werden gesucht. Nur Geisteswissenschaftler braucht niemand. Da überkommt Holger Friedrich zum ersten Mal der Zweifel: Wird das alles gut gehen?

Eine engagierte Sozialarbeiterin hilft ihnen beim "Einstieg in eine neue Welt", wie er sagt. Gerührt und sprachlos sind die beiden, als eine Familie aus Viernheim anbietet, dass sie bei ihnen kostenlos wohnen können. Und da sind Edeltraut und Herbert Noffz aus Wieblingen. Die haben in ihrer Kirchengemeinde nicht nur für die junge Familie gesammelt, Noffz besorgt Holger schließlich auch einen Job.

Der Wieblinger hatte die Annonce in der RNZ gesehen: Die Stadt Sinsheim sucht einen Leiter und Archivar für ihr Stadtmuseum. Holger Friedrich bewirbt sich und wird genommen; später steigt auch Christine mit ein. Die Jobs hatten beide bis 2018; in der Zeit hat das Paar ein preisgekröntes Museum aufgebaut und den Geschichtsverein geleitet. In Sinsheim sind sie längst zu Hause. Wenn sie heute nach Ostdeutschland fahren, dann nehmen sie meist eine ganze Busladung kulturinteressierter Leute mit, zeigen ihnen Meißen, Potsdam oder Dresden.

Das ist auch möglich, weil nur vier Wochen nach ihrer Ankunft in Heidelberg die Mauer fällt. Die Friedrichs verfolgen das am Fernseher. "Wir konnten nicht glauben, was wir da sahen. Wir sind ja mit dem Bewusstsein erzogen worden: Die Mauer steht ewig!"

Ort des Geschehens

Als Andenken an ihre Flucht in die Freiheit haben die beiden noch immer das Geschenk für das angebliche Brautpaar in Budapest im Schrank stehen. "Manchmal", schmunzelt Christine Friedrich, "holen wir das Tee-Service auf den Tisch".