Heidelberger Theater in Chile

Hola, Santiago de Chile

Gastspielreise des Heidelberger Theaters mit der deutsch-chilenischen Koproduktion "Nimby – Notin my Backyard"nach Südamerika

01.08.2017 UPDATE: 05.08.2017 06:00 Uhr 3 Minuten, 55 Sekunden
unächst wurde die deutsch-chilenische Koproduktion „Nimby – Not in my Backyard“ im Rahmen des iberoamerikanischen Festivals „Adelante“ in Heidelberg präsentiert, nun folgte der Gegenbesuch in Santiago de Chile. Dort wurde das Sechspersonenstück vier Mal gezeigt – mit großem Erfolg vor einem aufgeweckten, jungen Publikum. Nach jeder Vorstellung wurde heftig diskutiert. Foto: A. Taake

 

Von Volker Österreich

 

Aji ist ein verteufelt scharfes Zeug. Es gibt Hunderte von Rezepturen dafür. Wer will, kann die südamerikanische Gewürztunke auch in milderen Abstufungen über seine Gerichte träufeln. Besonders beliebt sind in Chile aber die Geschmacksrichtungen "extrascharf" und "nicht zum Aushalten". Richtig dosiert, gibt die Essenz aus gelb-roten Chili-Schoten den ganz besonderen Pfiff. Damit die Geschmacksrezeptoren ein Gefühl verursachen, als säße man beim Speisen kopfüber im Looping einer Achterbahn, empfiehlt es sich, nach einem mit Aji veredelten Mahl gleich noch einen Pisco sour hinterherzukippen. Als Digestif.

So gestärkt, ist man richtig auf Zack, um die deutsch-chilenische Koproduktion "Nimby - Not in my Backyard" im Centro Cultural Matucana der chilenischen Hauptstadt Santiago genießen zu können. Bis dorthin hat es die Auftragsarbeit geschafft, die im Februar anlässlich des iberoamerikanischen Festivals "Adelante" in Heidelberg uraufgeführt worden ist. Erst war eine Aufführungsserie am Neckar zu sehen, nun folgten vier Vorstellungen im mehr als 12.000 Kilometer Luftlinie entfernten Santiago.

Heckten gemeinsam die Koproduktion aus (v. l.): Paula Pavez, Produktionsleiterin des chilenischen Colectivo Zoológico, mit dem Heidelberger Intendanten Holger Schultze und dem Schauspieler Germán Pinilla.

Die beiden Heidelberger Ensemblemitglieder Nicole Averkamp und Martin Wißner waren natürlich mit von der Partie. Selbstverständlich mit Aji im Blut, was an allen Abenden zu spüren war. Auch die vier an der Koproduktion beteiligten chilenischen Kollegen vom Colectivo Zoológico gingen mit scharfem Verstand zur Sache. Alle zusammen sind längst ein eingespieltes Team. Und wer weiß, vielleicht werden sie "Nimby - not in my Backyard" nochmals in Südamerika zeigen. 100-prozentig sicher ist das noch nicht, "aber die per Überseecontainer nach Chile verschifften Kulissen bleiben vorerst in Santiago". Das zumindest signalisierten Heidelbergs Intendant Holger Schultze und sein Vize Florian Werkmeister, die ebenfalls vor Ort waren. Nicht nur, um den Künstlern und der Stadt Santiago ein herzliches "Hola" zu sagen, sondern um als Netzwerker die Fühler ganz weit auszustrecken. Hauptanliegen dabei: Die mit dem Heidelberger "Adelante"-Festival geknüpften Verbindungen nach Südamerika sollen gefestigt werden - ganz im Sinne des Festivaltitels, der in der Übersetzung nichts anders bedeutet als "Vorwärts".

 

Wie rasant es vorwärts gehen kann, erlebte das koproduzierende Colectivo Zoológico, das mit "Adelante" erstmals internationales Parkett betreten hatte und nun mit einer weiteren Produktion eine Einladung nach Sevilla erhielt. "Dabei gibt es uns erst seit fünf Jahren", erzählt Paula Pavez, die umtriebige Produktionsleiterin der freien Truppe. "Wir bestehen aus acht Leuten, die meisten arbeiten nebenberuflich bei uns." Bei größeren Inszenierungen kämen aber auch noch Gäste dazu - ähnlich wie jetzt im Fall von "Nimby".

Freie Gruppen wie das Colectivo Zoológico sind typisch für die Theaterszene Chiles. Stadttheater-Strukturen wie bei uns gibt es nicht in der mehr als 4000 Kilometer langen, aber recht schmalen Andenrepublik. Allenfalls das Teatro Municipal mitten im Zentrum Santiagos ähnelt in seiner repräsentativen Architektur mitteleuropäischen Häusern. In dem stolzen Bau, der nur vier Jahre jünger ist als der 1853 errichtete Alte Saal des Heidelberger Theaters, werden Konzerte und Opernabende genauso gegeben wie Tanztheater-Vorstellungen. Just zu dem Zeitpunkt, als "Nimby" im Matucana-Kulturzentrum gespielt wurde, stand im Teatro Municipal Verdis "Rigoletto" auf dem Programm. Die Künstlerische Leiterin der Tanzsparte heißt, man mag es kaum glauben, Marcia Haydee. Die aus Brasilien stammende Primaballerina hat bis Mitte der 1990er Jahre über dreieinhalb Jahrzehnte lang das Stuttgarter Ballett-Wunder geprägt.

Vor den schneebedeckten Gipfeln der Andenausläufer: Blick vom Cerro Santa Lucía auf die Sechseinhalb-Millionen-Metropole Santiago. 44 Prozent aller Chilenen leben in der Hauptstadt des Landes oder in ihrer näheren Umgebung. Die Kulturszene ist sehr rege.
Dass Paula Pavez und der "Nimby"-Schauspieler Germán Pinilla während ihrer spontanen Stadtführung, die sie für die Heidelberger Theaterleute und die mitgereiste kleine Delegation des Freundeskreises veranstalten, nicht am Teatro Municipal vorbeikommen, ist purer Zufall. Wichtiger als die Konkurrenz aus dem altehrwürdigen Bühnenkasten sind den beiden Cicerones zwei andere Hotspots der chilenischen Hauptstadt: der zentrale Plaza de Armas mit seiner Kathedrale und der ein paar Blocks weiter gelegene Präsidentenpalast Moneda, einst eine Münzprägeanstalt, wie der Name sagt. 1973 wurde hier Salvador Allende Opfer des Putsches, den Augusto Pinochet mit CIA-Unterstützung angezettelt hatte. Paula Pavez zeigt bei der Stadtführung auch jenes Seitenportal der Moneda, aus dem Allendes Leichnam getragen wurde.

 

"Bis heute ist die chilenische Gesellschaft von den Folgen des Putsches und den fast 17 Jahren der Pinochet-Diktatur geprägt", sagt die Chefin des Colectivo Zoológico. Das merkt man nicht nur während einer Demonstration gegen die derzeitige Sozialgesetzgebung, bei denen Opfergruppen Transparente mit Allende-Porträts auf der Plaza de Armas hochhalten; das merkt man auch während der Vorstellungen von "Nimby". Denn das vom Schauspieler Juan Pablo Troncoso geschriebene Stück ist zutiefst vom offenen Gesellschaftsbild der Chilenen geprägt. Erzählt wird darin vom Konflikt einer alteingesessenen Öko-Kommune am Rande Santiagos mit einem in unmittelbarer Nachbarschaft geplanten Wohnungsbauprojekt für die sozial schwächsten Schichten.

Der Fall ist authentisch. Satirisch überhöht wurde er vom Autor dadurch, dass er die Rollen für zwei beratende Besserwisser aus dem ach so effizienten Alemania in sein Textbuch schrieb. In Santiago sorgte dieser Clash der Kulturen für viele Lacher. Klar, dass die beiden deutschen Verschlimmbesserer mit Nicole Avercamp und Martin Wißner besetzt wurden. Sie spielt ihren Part wie eine toughe Managerin, während er in seiner faszinierenden Wut-Szene vor Energie vibriert.

 

Apropos Energie: Die war in jeder Minute der knapp einwöchigen Gastspielreise zu spüren. Vermutlich, weil jeder ein gewisses Quantum Aji und Pisco sour getankt hatte. Für zusätzlichen Schwung sorgten die zahlreichen Hintergrundgespräche, die vom Goethe-Institut und vom "Heidelberg Center Lateinamerika" (HCLA) miteingefädelt worden waren. Die Südamerika-Dependance der Heidelberger Universität und die Goethe-Truppe sind versiert auf dem Parkett der Wissenschafts- und Kulturdiplomatie.

So kam es, dass Holger Schultze nicht nur von einem Journalisten der größten Zeitung des Landes mit Fragen über "Nimby" und "Adelante" gelöchert wurde, sondern dass auch etliche chilenische Theaterleute zum Gedankenaustausch vorbeischauten, darunter ein Dramatiker, der zusammen mit der deutschen Performance-Gruppe "Rimini Protokoll" eine App entwickelt hat, mit deren Hilfe man auf den Spuren der Pinochet-Diktatur durch Santiago spazieren kann.

Zu Schultzes Gesprächspartnern zählte auch Carmen Romero Quero, die einflussreiche Leiterin von "Teatro a Mil". Bereits 1994 gegründet, gilt es heute als bedeutendstes internationales Festival Chiles. Es findet immer im Januar statt, also im südamerikanischen Hochsommer. Von Ariane Mnouchkine über die Wooster Group bis zu Peter Brook und Christoph Marthaler hat sie schon alle, die Rang und Namen haben in der Welt des Theaters, zu "Teatro a Mil" geholt. Wenn sich das Heidelberger Theater in diese Phalanx einreihen könnte, wäre das so scharf wie Aji. Darauf einen Pisco sour. Salud!