Wie die Anschläge eine Zeitenwende einläuteten
Der Historiker Philipp Gassert hält die Zeitenwende für noch nicht abgeschlossen und kritisiert die überzogene Reaktion der USA, die sogar den Aufstieg Trumps begünstigte.

Von Christian Altmeier
Mannheim. Der Amerikanist Philipp Gassert (56) ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. In seinem soeben im Reclam-Verlag erschienenen Band "11. September 2001" arbeitet er die Ursachen, Reaktionen und Folgen der Anschläge auf. Im Gespräch mit RNZ-Redakteur Christian Altmeier zieht er eine Zwischenbilanz 20 Jahre nach den Attentaten.
Herr Professor Gassert, auf dem Cover Ihres Buches zum 11. September 2001 steht ganz oben das Wort "Zeitenwende". Haben die Anschläge tatsächlich ein neues Zeitalter eingeläutet?
Aus der heutigen Sicht muss man das klar bejahen. Es hat einen Umschwung gegeben, den man vor zehn Jahren noch nicht klar erkennen konnte. Wobei es nicht die Anschläge selbst waren, die diese Zeitenwende bewirkt haben, sondern die Reaktionen darauf. Die zentrale Reaktion, die darauf erfolgte, war die Kriegspolitik der Regierung Bush und die hat in der letzten Konsequenz die amerikanische Hegemonie und Unangreifbarkeit der 1990er Jahre untergraben.
Es gab bei den Anschlägen ja immerhin fast 3000 Tote, fast alle Zivilisten. Stellte das denn keine Kriegserklärung an die USA dar?
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Es als Kriegserklärung zu deuten, war die Interpretation der Regierung Bush. Auch die Medien haben das Wort Krieg recht schnell und flächendeckend verwendet. Aber es handelte sich um einen Terrorakt. Ich glaube, das Problem liegt genau darin, dass man einen zweifellos präzedenzlosen Anschlag als eine Kriegserklärung deutet. Damit tat man genau das, was Osama bin Laden erreichen wollte, nämlich auf Augenhöhe Krieg gegen ihn und seine lose Gruppierung von Terroristen zu führen. Das war einfach eine Nummer zu groß. Die Antwort stand in keinem Verhältnis zu dem, was al Kaida und die Anschläge tatsächlich bedeuteten.

Wie hätte die US-Regierung denn reagieren sollen?
Man hätte, ähnlich wie bei vorherigen Anschlägen, wie etwa dem Oklahoma City Bombing, mit den Methoden der Strafverfolgung und der Geheimdienste darauf reagieren können, selbstverständlich auch militärisch. Stattdessen entschied man sich für einen Krieg in Afghanistan, der die amerikanische Weltvorherrschaft festigen und zementieren sollte und dann für einen zweiten Krieg, die Invasion im Irak, der nichts mit den ursprünglichen Terroranschlägen zu tun hatte.
Die Betroffenheit, der Schock und der Schrei nach Vergeltung waren nicht nur in den USA enorm. Wäre es denn überhaupt möglich gewesen, weniger massiv zu reagieren?
Es ist natürlich richtig, dass die Gesellschaft zutiefst schockiert war und dass jeder politische Akteur in den USA und im Westen darauf reagieren musste. Man konnte es nicht einfach so hinnehmen. Aber al Kaida war bereits wenige Wochen nach Beginn der Invasion in Afghanistan an den Rand gedrängt und weitgehend besiegt. Die meisten Terroristen waren entweder untergetaucht oder umgekommen. Aber dabei hat man es nicht belassen. Man wirkte auf einen Regimewechsel in Afghanistan hin und wollte die Taliban beseitigen. Damit haben die USA Afghanistan als Land in die Verantwortung genommen. Dieser zweite Schritt war in den Ereignissen selbst nicht angelegt. Eine robuste Antwort gegen die Terroristen war nötig. Die sogenannten transformativen Kriege der Bush-Regierung aber gingen schief und haben auf die USA zurückgeschlagen.
Haben diese Kriege in der Folge sogar neue Anschläge heraufbeschworen?
Es kam zu keinen weiteren direkten Anschlägen auf die USA. Aber al Kaida hat sich zu einer Art "Franchise-Unternehmen" entwickelt und hat im Maghreb, im Jemen und auch in Somalia und Ostasien Terroranschläge verübt. Auch in Indien gab es einen verheerenden Anschlag in Mumbai. Zudem kam es nach dem Rückzug der USA aus dem Irak zum Aufstieg des Islamischen Staates als einer weiteren Terrorgruppe. Insofern ist der islamistische Terrorismus mit der Reaktion auf die Anschläge nicht besiegt worden. Das hängt auch damit zusammen, dass man die Prioritäten falsch gesetzt hat. Die Bush-Regierung hat von der Verfolgung der Terroristen recht schnell auf Regimewechsel in Afghanistan und dem Irak umgeschaltet.
Hatte der Irak denn überhaupt etwas mit den Anschlägen zu tun?
Nein, im Gegenteil: Saddam Hussein war ein Gegner von al Kaida. Osama bin Laden hat ja seine Karriere damit begonnen, dass er die saudische Regierung 1990 vor Saddam gewarnt hat. Nach der Besetzung von Kuwait durch den Irak hat sich bin Laden dann angeboten, mit seinen in Afghanistan im Krieg gegen die Sowjetunion kampferprobten Dschihadisten Saddam wieder aus Kuwait zu vertreiben. Die saudische Regierung hat dafür aber lieber die Amerikaner ins Land geholt. Das hat dann zu einer weiteren Eskalation seitens der Islamisten geführt, weil dadurch auch die Verteidigung der heiligen Stätten des Islam, die historische Kernaufgaben des saudischen Königshauses, von Ungläubigen übernommen wurde. Das hat in der letzten Konsequenz auch zu den Anschlägen vom 11. September beigetragen. Bin Laden hat das als eine Begründung in seiner Kriegserklärung gegen die USA Anfang 1998 genannt.
Inwiefern haben die Anschläge und die Reaktionen darauf dann Amerikas Rolle in der Welt untergraben?
Zunächst sah es so aus, als ob das Konzept der USA Erfolg haben würde, durch diese transformativen Kriege ihre Weltvorherrschaft, die sich durch den Zerfall der Sowjetunion in den 1990er Jahren eingestellt hatte, zu verlängern und dauerhaft zu festigen. Das gilt weitgehend für die 2000er Jahre. Im Endeffekt hat es die Rolle der USA aber dadurch beschädigt, dass der Westen sich gespalten hat. Die Nato war noch einig in der Mission in Afghanistan. In Bezug auf den zweiten Krieg im Irak aber war das nicht mehr der Fall. Davon zeugt etwa Joschka Fischers berühmtes Zitat auf der Sicherheitskonferenz in München: "Ich bin nicht überzeugt!". Und auch in den USA selbst hat der Irak-Krieg zu viel Widerstand und Protesten geführt. Dass die Kriege schief gelaufen sind, enorme Ressourcen gebunden und viele Opfer gefordert haben, hat dann wesentlich dazu beigetragen, dass Amerikas Rolle in der Welt heute reduziert wirkt. Auch der Aufstieg des Isolationisten Donald Trump, dessen Präsidentschaft Amerikas internationales Ansehen weiter beschädigte, wurde dadurch begünstigt.
Wie das?
Trump war mit seiner isolationistischen Agenda in der Republikanischen Partei zunächst ein Außenseiter. Aber seine Forderungen wurden zunehmend populär und er hat ja schließlich auch den Abzug der USA aus Afghanistan ausgehandelt. Die Abkehr Amerikas von der Welt, die innergesellschaftliche Spaltung und die wirtschaftlichen Probleme, die Trumps Aufstieg begünstigt haben, haben alle ihre Ursachen zum Teil in den Anschlägen und den Reaktionen darauf.
Hat sich der Blick der Deutschen auf die USA in den vergangenen 20 Jahren denn entscheidend verändert?
Ganz bestimmt. Nach dem 11. September 2001 bestimmten Entsetzen, Trauer und große Solidarität das transatlantische Verhältnis. In Heidelberg etwa sind viele Menschen zu den Kasernen gegangen, um ihr Mitgefühl mit den Amerikanern zum Ausdruck zu bringen. Aber diese Solidarität zerbrach über dem Irak-Krieg, der nicht nur eine starke Friedensbewegung hervorgerufen hat, sondern auch im politischen Establishment in Deutschland abgelehnt wurde. Auch die Union hat sich damals nur halbherzig für den Krieg ausgesprochen. Das war eine grundsätzlich andere Situation auch als im Kalten Krieg, als die Bundesregierungen immer eng an der Seite der USA standen. Es gibt aber natürlich weiterhin eine sehr hohe gesellschaftliche Interaktion und die Zustimmungswerte für die amerikanische Politik sind unter Joe Biden zumindest besser geworden.
Ist die "Zeitenwende", die durch den 11. September 2001 ausgelöst wurde, denn jetzt abgeschlossen?
Nein, ich glaube, wir sind noch mittendrin. Es ist auch nach 20 Jahren noch zu früh, um ein Fazit zu ziehen, was die Ereignisse tatsächlich bewirkt haben. Wir leben immer noch im Schatten des 11. September und der zusammenstürzenden Türme. Die Auseinandersetzung des Westens mit dem Islamismus dauert an. Auch was die Rolle der USA in der Welt angeht, befinden wir uns noch in einer Phase des Übergangs. China hat den Moment der Schwäche Amerikas gut für sich genutzt, nicht zuletzt auch in der Regierungszeit von Trump. Es hat sich auch gezeigt, dass die USA mit den Kriegen an materielle Grenzen gestoßen sind und dass auch ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen. Der Westen und die liberale Demokratie ist in der Welt auch nicht mehr so dominant und vorbildlich, wie er das in den 1990er Jahren war. Und nicht zuletzt sieht man an der Erinnerungskultur, dass die Geschichte des 11. September noch nicht zu Ende ist.
Inwiefern?
Wenn man in die Ausstellung der Gedenkstätte zu 9/11 an Ground Zero in New York geht, sieht man, wie schwer es den Amerikanern immer noch fällt, sich darauf zu verständigen, was die Anschläge eigentlich verursacht hat. Museumsdidaktisch ist das vom Feinsten, aber es wird nur darüber gesprochen, dass individuelle Menschen Opfer geworden sind. Es wird in dem Museum aber überhaupt nicht thematisiert, wie es zu den Anschlägen kommen konnte. Es wird auch nicht über die Folgen gesprochen, außer über die Traumatisierung Betroffener oder der Hinterbliebenen von Opfern. Es ist eine Form des Heldengedenkens, die die unangenehmen Fragen nicht stellt. Auch daran sieht man, dass dieses historische Kapitel noch qualmt. Es ist nicht erkaltet, die Emotionen sind noch sehr stark.