Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine"

So lief die Eröffnung der Heidelberger Schlossfestspiele

Turbulentes Stück von Eugène Labiche im Dicken Turm - Einstürzende Altbauten der Bürgerlichkeit

23.06.2019 UPDATE: 24.06.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 56 Sekunden

Schlinger- und Schleuderkurs auf der schiefen Ebene im Dicken Turm mit (v.l.) Thorsten Danner (Mistingue), Martin Wißner (unten: Justin), Hendrik Richter (Lenglumé), Friedrike Pöschel (Norine) und Jonathan Schimmer (Potard). Foto: Sebastian Bühler

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Ein Mann wie ein Abgrund: Der Pariser Monsieur Lenglumé glaubt selbst, dass er zu den schrecklichsten Untaten fähig ist, bis hin zum Mehrfachmord. Aber da mag kommen, was will - Hauptsache die bürgerliche Fassade wird gewahrt. Aus dem Zwiespalt dieser krassen Doppelmoral bezieht die turbulente Komödie "Die Affäre Rue de Lourcine" von Eugène Labiche (1857) ihre sich immer weiter steigernde Dynamik, die zu einem ganzen Reigen grotesker Missverständnisse und komischer Kollisionen führt.

Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat die deutsche Version erstellt, und Regisseur Robin Telfer zaubert damit zum Auftakt der Heidelberger Schlossfestspiele eine heiter-schwungvolle Inszenierung in den Supersommerabend - das Ganze im Dicken Turm mit dem Weltklassepanorama über die Stadt und die Rheinebene bis hin zu den Pfälzer Bergen.

Und Telfer hat sich eine Menge sprühender Ideen einfallen lassen, um diese unglaubliche Szenerie und Stimmung des Sonnenuntergangs für den Theaterabend einzufangen. Zum Beispiel hat der bieder-monströse Rentier Lenglumé seine Schlafstatt mittendrin in diesem Ambiente. Soll das etwa heißen, dass dessen vermeintlicher Killer-Instinkt in uns allen schläft?

Aber gemach! Auch Lenglumé hat ganz andere Sorgen, als er morgens aus den Kissen gekrochen kommt. Nach dem gestrigen alkoholschwangeren Klassentreffen hat er einen veritablen Filmriss. Er hat keine Ahnung mehr davon, was nach dem Salat noch passiert ist - als er einen Mitschläfer in seinem Bett ausmacht. Wen hat er da im Suff nur abgeschleppt? Die erste Reaktion: Hoffentlich ist es wenigstens eine Frau - aber es ist ein Mann.

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Programm Schlossfestspiele 2019

Das ist schon mal nicht so gut für die Fassade. Jedoch handelt es sich lediglich um den gestrigen Saufkumpan Mistingue, so beruhigt sich Lenglumé nur kurz. Denn schon beim Frühstück liest er in der Zeitung, dass am Vorabend ein Kohlenmädchen von zwei finsteren Gestalten ermordet wurde - und beide Co-Schläfer haben Kohlespuren an den Händen! Jetzt kommt die kreuzbrave Fassade doch ganz erheblich ins Wanken, wobei die Brüchigkeit des Salon-Milieus mit der Ruine des Dicken Turms korrespondiert.

Und Lenglumé hat alle schwarzen Hände voll zu tun, die einstürzenden Altbauten seiner Bürgerlichkeit zu stützen. Bald hetzt er in einem immer stärkeren Schlinger- und Schleuderkurs über die schiefe Ebene auf der Bühne, schrammt dabei durch das Dickicht der Konventionen und will schließlich - ganz nahe am Wahnsinn - potenzielle Zeugen des Kohlenmädchenmordes aus dem Weg räumen.

Hendrik Richter spielt auf famose Weise diesen Biedermann außer Rand und Band mit einer irren Mischung aus Engstirnigkeit und Verschlagenheit, wobei beide Negativzustände übergangslos ineinander umschlagen und sogar zu wahren Wrestling-Szenen führen können. Richters Lenglumé ist entweder in der Vorwärts- oder Rückwärtsverteidigung - ein Dazwischen, wo der saturierte Rentier nur er selbst ist, gibt es offenbar in seinem entfremdeten Leben nicht. Und hier liegt eine gehörige Portion Gesellschaftskritik versteckt.

Deutlich proletarischer mischt der zweite Teilnehmer des Klassentreffens in dem ganzen Tohuwabohu mit: Thorsten Danner gibt den so jovialen wie handfesten Koch Mistingue, der mitunter der Devise folgt: Erst kommt das Fressen und dann die Moral, was dem distinguierteren Lenglumé durchaus missfällt. Aber der ist stets aufs Neue dadurch gefordert, seine Gattin Norine (Friederike Pöschel) selbst in den steilsten Kurven der Absurdität bei der Stange zu halten. Und gleichzeitig auch noch seinen Vetter Potard (Jonathan Schimmer): Für dessen Nachwuchs sollen Lenglumé nebst Gattin heute eigentlich die Taufpaten sein.

Last but not least gab Martin Wißner den Bediensteten Justin mit viel Biss - und akrobatischen Einlagen. Einmal mehr bewies der Schauspieler seine tolle Fitness: wenn er mit den Füßen die Weinflasche auf dem Tisch platziert, wenn er Spiderman-mäßig in den hohen Zuschauerrängen herumturnt oder als pechschwarze Gestalt auf hoher Mauer steht - vielleicht drohend wie Darth Vader oder Belphégor, aber wahrscheinlich doch auf das dunkle Schicksal des Kohlenmädchen hinweisend. Dieser Bedienstete spielte mit seinen starken Aktionen bei der Einbeziehung des Dicken Turms eine zentrale Rolle. Aber in dieser Figur lauert zugleich die Alternative zum arrivierten Leben - getragen von der Wut der Ausgeschlossenen.

Aber trotz der allgemeinen explosiven Gemengelage - nicht enden wollende Brexit-Verhandlungen inklusive - löst sich am Ende doch noch einmal alles in Wohlgefallen auf. Das kann an einem so schönen Theaterabend mit der effektvollen Bühnengestaltung von Peer Rudolph, den historischen Kostümen von Katharina Kromminga, der musikalischen Begleitung von Günter Lehr und viel Gesang der Akteure eigentlich auch gar nicht anders sein. Oder doch?

Am Ende heißt es zwar in einem Lied: "Ist’s vorüber, lacht man drüber." Aber man lacht auch schon am Anfang. Und am Schluss schwingt in der Gute-Laune-Stimmung eine Spur des Gruselns mit. - Starker Applaus.

Ort des Geschehens

Info: Nächste Termine: 25., 27., 29. Juni sowie viele weitere bis 29. Juli. Das Programm steht Ihnen oben rechts als Download zur Verfügung.

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