Heidelberger Tanzbiennale

Im Strudel der Ungewissheit

Faszinierend in jeder Hinsicht: "Gran Bolero" sowie ein Abend mit Leïla Ka und Chey Jurado bei der Tanzbiennale.

01.02.2023 UPDATE: 01.02.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 12 Sekunden
Ausbruch in neue Freiheiten: Szene aus Jésus Rubio Gamos Choreografie „Gran Bolero“. Foto: Tanzbiennale

Von Isabelle v. Neumann-Cosel

Heidelberg. Irgendetwas fehlt in den Taschen des schlackernden Jacketts und der oversized Hosen von Tänzer und Choreograf Chey Jurado: der Pass, das Portemonnaie, der Schlüssel fürs Haus oder fürs Leben, wer weiß das schon? Vom zwanghaften Durchwühlen der leeren Taschen bis zu einer Drehung auf der Stelle im Kreis ist es im Solo "Jaiz" (Wurzel) nicht weit: ein sprechendes Sinnbild für hemmende Wurzeln, die kein Fortkommen erlauben. Wenn sich der Tänzer endlich traut, aus den Schuhen zu steigen, gibt er zugleich alle gewohnten Sicherheiten auf. Für dieses Lebensgefühl gibt es nur eine Antwort: urbanen Tanz, der alle Bewegungs- und Sehgewohnheiten infrage stellt.

Groß ist das Thema des Duos von Chey Jurado und Javito Mario: "Samsara", der ewige Kreislauf des Lebens. Er beginnt bei einem unsichtbaren Schachspiel, bis das Ziehen der Figuren in eine freundschaftliche Rangelei mündet. Wettstreit bleibt das beherrschende Thema, auch wenn jetzt jeder auf seine Weise auf Welterkundung geht. Es ist berührend zu sehen, wie sich die beiden Protagonisten dabei mit unnachgiebiger Sanftheit gegenseitig beschützen. Urban Dance ist der gemeinsame Bewegungsnenner: das artistische, so lässig wirkende Innehalten in einem Bewegungsablauf wird hier genutzt, um den anderen vor möglichen Fallstricken zu bewahren. Konkurrenz ohne Aggression und beiläufige Zärtlichkeit ohne erotische Komponente: Mit feinem Gespür für das Unterlaufen von maskulinen Klischees zeichnet Jurado eine Vision davon, wie sich die Welt friedlich weiterdrehen könnte. Dritte im Bunde dieses höchst gelungenen Abends in der Heidelberger Hebelhalle im Rahmen der Tanzbiennale war Leïla Ka, ein darstellerisches Ausnahmetalent.

Gleich ihr erstes, nur 17-minütiges Solo "Pode ser" (Kann sein) wurde mit Preisen überhäuft und katapultierte sie regelrecht in die vordere Reihe der Tanzszene. In Heidelberg konnte man sehen, warum: Wenn diese Tänzerin in Jogginghosen unterm femininen Tüllkleid im Lichtkegel steht, ist der Bogen wechselnder Identitäten schon weit gespannt. Da braucht sie nur einen Flunsch zu ziehen, um sich als Null-Bock-Teenie erkennen zu geben, um sich im nächsten Augenblick in eine aktuelle Jeanne D‘Arc zu verwandeln.

Auch Leïla Ka kommt vom urbanen Tanz, einem Schwerpunktthema dieser Tanzbiennale unter dem Motto "Dance breaking free". Wieviel Kraft, Aggression, Reaktionsschnelligkeit und Schonungslosigkeit es dafür braucht, die eigene Identität jenseits der Geschlechterklischees finden zu können, das stellte die Tänzerin augenfällig unter Beweis.

Einen ganz anderen Ausbruch in neue Freiheiten ließ Jésus Rubio Gamo in "Gran Bolero" jeweils sechs Tänzerinnen und Tänzer der beiden größten Tanztheater Spaniens aus Madrid und Barcelona wagen. Ausgangspunkt für den heftig beklatschten Abend im Marguerre-Saal war eine Komposition, die zu den meistgespielten auf der ganzen Welt gehört: "Bolero" von Maurice Ravel erklingt statistisch gesehen alle 15 Minuten.

Der vibrierende Grundrhythmus, die Wiederholung der eingängigen Melodie und die langsame Steigerung der Instrumentenzahl bauen in rund 15 Minuten eine hypnotische Spannung auf – ein Pendant zu knisternder Erotik. Diese einzigartige Wirkung hat Choreografen weltweit immer wieder neu herausgefordert. Für Jésus Rubio Gamo versprach der Bolero freilich größere, universellere Freiheiten, auch wenn in seiner Choreografie am Ende die Hüllen fliegen und Nacktheit dominiert.

Komponist José Pablo Polo schuf mit Hilfe elektronischer Überblendung eine 50-minütige Bolero-Fassung, die perfekt mit der Erwartungshaltung des Publikums spielt. Für seine Tänzertruppe kreierte der Choreograf einen linksdrehenden Bewegungsstrudel, in dessen sich ständig steigernden Sog alle Tänzerinnen und Tänzer gerieten – egal, ob, sie in Hebungen herumgeschleudert oder zackig über die Bühne gezogen wurden. Am Ende winkt die gleißende Freiheit, und plötzlich ist – natürlich – auch rechtsherum erlaubt.

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