Heidelberger Frühling

Triumph der Subjektivität

Der Pianist Fazıl Say begeistert mit seinem Auftritt das Publikum.

18.04.2022 UPDATE: 19.04.2022 06:00 Uhr 1 Minute, 44 Sekunden
Eingebung von oben? Der Pianist Fazıl Say zählt zu den Stammgästen beim „Frühling“. Foto: studio visuell

Von Christoph Wagner

Heidelberg. Sofort nach dem Begrüßungsapplaus begann Fazıl Say seinen Klavierabend beim Heidelberger Frühling in der Aula der Neuen Universität. In hauchzartem Pianissimo zauberte er das Prélude aus Georg Friedrich Händels Suite d-Moll auf die Tasten, ohne sich darum zu kümmern, dass es im Saal noch gar nicht ruhig war. In den hinteren Reihen dürften die ersten Takte kaum hörbar gewesen sein. Das sollte zum Signum dieses Abends werden.

Fazıl Say, 1970 in Ankara geboren, scheint keinerlei Konventionen zu akzeptieren. Dementsprechend ist er auch in Erdogans Türkei als Bürgerrechtsaktivist unterwegs und wurde im Jahr 2013 gar wegen Blasphemie zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Seine Interpretationen scheinen von Fragen der historisch informierten Aufführungspraxis völlig unberührt zu sein. Sie entstehen vielmehr aus seiner ganz individuellen Begegnung mit der jeweiligen Komponistenpersönlichkeit. Händels d-Moll-Suite etwa war dann keine Alte Musik mehr, sondern wurde zum schöpferischen Akt im Hier und Jetzt, der alle Ausdrucksmöglichkeiten des modernen Flügels nutzte.

Ludwig van Beethovens sogenannte "Mondscheinsonate" (der Titel stammt nicht vom Komponisten, sondern vom Musikkritiker Ludwig Rellstab) war zweifellos der Höhepunkt des Abends. Fazıl Say entlarvte alle konkreten Deutungen von "Mondschein" oder "nächtlicher Bootsfahrt auf dem Vierwaldstätter See" als viel zu kurz greifenden, sentimentalen Unfug. Im einleitenden Adagio sostenuto verließ er nie den Pianobereich und erzeugte durch ein sehr ruhiges, gnadenlos starr durchgehaltenes Zeitmaß eine schier unerträgliche Spannung, die sich jedoch in dem sehr lyrisch genommenen Allegretto wieder zu verflüchtigen schien.

Gleich einem Vulkanausbruch entlud sie sich erst im Finale in rhythmischer Energie von solch ungeheurer Gewalt, dass es wohl so manchen Zuhörer kaum auf seinem Stuhl hielt.

Bis weit hinein ins 20. Jahrhundert waren die meisten Pianisten auch Komponisten und umgekehrt. Mit der Eigenkomposition "Yeni hayat" (Neues Leben) stellt sich Fazıl Say in diese Tradition. In einer höchst originellen, oft improvisatorisch wirkenden Tonsprache irgendwo zwischen Béla Bartók und Chick Corea erlebten wir seine ganz persönliche Aufarbeitung und Überwindung der Corona-Pandemie. Neben halsbrecherischer Virtuosität waren es auch hier wieder vor allem die Rhythmen, die das Publikum fesselten und die er in der Schlussphase durch lautstarkes Trampeln verstärkte.

Auch zur großen B-Dur-Sonate von Franz Schubert, in der die Ahnung oder gar das Wissen um seinen viel zu frühen Tod wenige Wochen nach Beendigung der Komposition immer wieder einfließt, lieferte Fazıl Say seine ganz eigene, trotz einer Spieldauer von knapp 45 Minuten immer spannende und emotional bewegende Deutung. Nur bei genauer Kenntnis des Notentextes konnte irritieren, dass er beim Umgang mit Schuberts sehr differenzierten Vortragsbezeichnungen oft die Grenzen interpretatorischer Freiheit weit überschritt.

Für die stehenden Ovationen bedankte sich Fazıl Say mit einer weiteren Eigenkomposition als Zugabe, die noch einmal die Bedeutung dieses Abends unterstrich: Triumph der Subjektivität.

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