Die wechselvolle 25-jährige Geschichte
Ein Rückblick auf die wechselvolle Geschichte eines besonderen Musikfestivals.

Von Matthias Roth
Heidelberg. Man muss nicht tief graben, um sich in der Geschichte zu verirren. Erinnerungen sind bekanntermaßen flüchtig. Exakt zu datieren, wann das Musikfestival Heidelberger Frühling tatsächlich geboren wurde, fällt heute schon einigermaßen schwer, auch wenn viele das selbst miterlebt haben. Tatsache ist, dass der Name erstmals 1997 über einer Veranstaltungsreihe zu lesen stand: Gefeiert wurde unter dem Titel "Heidelberger Frühling" damals ein Fest zum 100. Todestag von Johannes Brahms. Es umfasste rund 50 Veranstaltungen und wurde überwiegend von Heidelberger Musikschaffenden unter der Federführung des Philharmonischen Orchesters und des damaligen Generalmusikdirektors Thomas Kalb gestaltet. Die Sinfoniker unter Thomas Fey war ebenso beteiligt wie die Frankfurter Singakademie und das Orchestre Philharmonique de Strasbourg. Zum Abschluss gab’s Walzer auf dem Universitätsplatz.
Die hiesigen Chöre, die Musik- und Kunstfreunde, das "Gegenwelten"-Festival, ja selbst das Karlstorkino und der Kunstverein waren ins Programm integriert, das wenige internationale Stars wie Rudolf Buchbinder, Thomas Zehetmair oder Sheila Arnold als Solisten bereicherten. Die meisten Mitwirkenden kamen aber aus dem städtischen Orchester, aus dem Theater, aus den Kantoreien der Stadt oder der Musikhochschule Mannheim: Die Sopranistinnen Brigitte Geller, Stella Doufexis und Ruth Ziesak, die Pianisten Ulrich Eisenlohr oder Philipp Vandré, der Cellist Reimund Korupp und die Baritone Andreas Schmidt und Werner-Volker Meyer engagierten sich für dieses Festival. Der Musikwissenschaftler Ludwig Finscher sprach über Johannes Brahms, der 1875 eine lange Sommerfrische in Ziegelhausen genossen hatte.
Aber die Idee zu einem solchen Festival war bereits im Vorjahr aufgekommen, im Jahr der 800-Jahr-Feier der Stadt. Schon 1996 gab es eine bunt gemischte, kulturelle Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Frühling". Dieser wurde wohl als Gegenpol zum Heidelberger Herbst gedacht und diente damals nur als große Klammer für die vielen unterschiedlichen Aktivitäten. Das Philharmonische Orchester unter GMD Kalb trug dazu eine eintägige "Zeitreise" durch mindestens 500 Jahre Heidelberger Musikgeschichte bei. Die Konzerte fanden an den unterschiedlichsten Orten statt, vom Schloss bis zur Stadthalle, vom Kurpfälzischen Museum bis zum Wolfsbrunnen – wo plötzlich einsetzender Regen einen im Freien stehenden Flügel gefährdete, der unter Teilnahme des Publikums in den Saal gerettet werden musste. Aber die Sache war ein riesiger Erfolg. Thorsten Schmidt, der spätere Intendant des "Frühlings", kam damals gerade aus Frankfurt nach Heidelberg und hatte Blut geleckt an der Festival-Idee.

Die musikalische Festivallandschaft Heidelbergs war bis dahin dünn gesät. Am langlebigsten hatte sich das "Gegenwelten"-Festival für (Neue) Musik von Frauen seit 1985 behauptet, daneben gab es einige Jahre die Mozart-Wochen der Heidelberger Sinfoniker, regelmäßige Kirchenmusiktage der Hochschule für Kirchenmusik und sporadische Bach-Festwochen sowie das ganztägige Bach-Event in Heiliggeistkirche zum Geburtstag des Thomaskantors (seit 1985). In diesem Kontext war die Idee, ein neues, auf vier bis sechs Wochen angelegtes Festival zu installieren, schon eine ganz andere Hausnummer. Und ein Wagnis.
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Die Idee wurde unter Thorsten Schmidt und einem sehr kleinen Team schließlich unabhängig vom Philharmonischen Orchester weiter entwickelt. Neu war dabei die Aufgabe, die Deckung von Honorar- und Mietkosten mit Sponsoren und Eintrittsgeldern zu finanzieren, während die Stadt die "Sachkosten" fürs Personal übernahm. "Ohne HeidelbergCement und den eigentlichen Vater des ,Frühlings‘, Norbert Fritz, damals Marketingchef des Unternehmens, hätte der ,Frühling’ vermutlich keine Chance gehabt", bekannte Schmidt einmal im RNZ-Interview. Das Modell der Dreiteilung der Kosten zwischen Stadt, Sponsoren und Eigenerwirtschaftung gab dem Festival Flexibilität in der Programmgestaltung, aber auch eine große Portion Selbstverantwortung.
Der Heidelberger Frühling hat viele Väter und Mütter und ruht auf zahlreichen Schultern. Entscheidend für den nachhaltigen Erfolg war das Konzept, Künstler früh zu binden, indem man ihnen die Möglichkeit bot, sich an mehreren Tagen mit eigenen Programmideen zu präsentieren. Denn ausübende Musiker, das hatte sich damals rumgesprochen, waren es oft leid, jeden Abend woanders zu spielen, mit oft unterschiedlichem Programm und nach Veranstalter-Gusto: "Hammerklavierscheinsonate hatten wir gerade, könnten Sie nicht die ,Mondscheinsonate‘ spielen?" Schmidt, der anfangs keine riesigen Honorare zahlen konnte, begriff, dass dies eine Chance sein könnte. Das Format "Meisterkurs" (Christa Ludwig, 1998) war zwar unter Studierenden beliebt, aber ein Auslaufmodell, selbst wenn man es dem Publikum öffnete. Man lud stattdessen einen "Artist in Residence" ein, eigene Ideen zu realisieren. Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann begann damit 2004. Das Minguet-Quartett brachte 2005 die Idee des Streichquartettfests ein, das schnell zum Publikumsliebling avancierte: Das Konzept, Raum zu bieten für junge und reife Ensembles, die sich zwischen den Tourneen austauschen (und das Publikum daran teilnehmen zu lassen), wurde in ganz Deutschland kopiert. Ab 2012 musste das Streichquartettfest, da es innerhalb des "Frühlings" zu raum- und zeitgreifend geworden war, ausgegliedert werden. Seitdem findet es als eigenständiges Festival im Januar statt.
Starbariton Thomas Hampson, der 2004 seinen ersten Liederabend in Heidelberg gab und sich sofort in diese Stadt verliebte, griff diese Idee auf und dachte über ein ähnliches "Festival im Festival" nach: 200 Jahre nach Erscheinen des "Wunderhorns" veranstaltete der "Frühling" 2006 ein Symposium unter seiner Leitung zur hier entstandenen Liedersammlung. Das führte zur "Lied Akademie", die im "Lied Zentrum" (Gründung 2016) mündete.
Die Liste der Interpreten, die beim "Frühling" auftraten, ist lang, aber sie ist nicht der Kern des Ganzen. Junge Künstler, denen man hier ihre erste Chance bot, entwickelten sich bald zu Weltstars. Der Pianist Igor Levit sagt heute, dass dieses Festival überhaupt der Startschuss für ihn war: Hier durfte er große Werke (Goldberg-Variationen, Eroica-Variationen, die Variationen über "The people united will never be defeated" von Frederic Rzewski) spielen, bevor er sich überhaupt sicher war, das öffentlich präsentieren zu können. Später erschienen sie alle als CD und wurden international ausgezeichnet. Levit, ein Sonderfall in der klassischen Musikszene, da er sich dem Mainstream konsequent verweigert, konnte hier eigentlich immer machen, was er wollte – und das Heidelberger Publikum folgte ihm. Auch wenn er spät nachts auf die Idee kam, "spontan" Beethovens monströse "Hammerklaviersonate" zu spielen, im engen Frauenbad, wo das Publikum auf unbequemen Pappwürfeln sitzen musste: Es gab Standing Ovations um Mitternacht! Sowas bleibt im Gedächtnis und zählt zu meinen persönlichen Highlights der ersten 25 Jahre.
Aber das ist natürlich völlig subjektiv. Jeder Konzertbesucher wird seinen eigenen Liebling haben. Berührend waren viele Veranstaltungen, etwa Brittens "War Requiem" 1999, als die Nato gerade Luftangriffe im Kosovo flog: Der jetzige Krieg in der Ukraine ist ja mitnichten der erste in Europa nach 1945, auch wenn die Art des Überfalls seit 1939 keine Parallele hat. Der Heidelberger Frühling, der aktuelle Themen immer aufgegriffen hat, wird auch dazu sicher Stellung nehmen: Schon die eingeladenen Künstler garantieren das.



