Berlin (dpa) – Die gute Nachricht zuerst: Wer schon immer etwas über das Innenleben Bukarester Vorstadtschulen in der Vorwendezeit wissen wollte, der wird jetzt bei Mircea Cartarescu fündig. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman "Solenoid" berichtet Cartarescu als ich-erzählender Lehrer vom Mikrokosmos einer solchen Lehranstalt. Es geht um schmutzige Schüler aus elenden Familienverhältnissen und um den oft brutalen Lehrkörper, die permanente Überforderung einiger Lehrer und die erotische Anziehungskraft mancher Lehrerinnen.
Doch der rumänischen Schriftsteller verharrt nicht bei den Vorgängen in seiner Schule. Deren Schilderungen erscheinen – wie die wiederkehrenden Krankenhaus- und Zahnarztszenen mit klobigen Impfspritzen und den Marterwerkzeugen der Dentisten – lediglich als Anknüpfungspunkte an ein Universum des Unbehagens, das sich im Verlauf des Buches entfaltet. Alpträume und verstörende Schreckensbilder reihen sich aneinander. So wirkt "Solenoid" über weite Strecken, als habe Cartarescu die imaginäre Welt einer düsteren Grafic Novel verschriftlich. Die "Vorstellung von Wirklichkeit", stellt der Autor fest, sei "die phantastischste aller menschlichen Erdichtungen".
Denn was ist wirklicher: Was sich vor unseren Augen abspielt oder was in unserem Kopf geschieht? Statt fiktionale Literatur zu schreiben, gehe es ihm darum, "in der Wirklichkeit zu recherchieren, in der Realität der Verstandeskräfte, des Traums, der Erinnerung, der Halluzinationen und in jeder anderen Realität", heißt es zu Beginn. Dann geht es von einem Delirium zum nächsten, von einer fantastischen Idee zur folgenden Einbildung. Gehirne häuten sich und Cartarescu stellt Überlegungen zum mehrdimensionalen Denken an.
Das ist schwere Kost. "Solenoid" ist weit entfernt von der relativen Zugänglichkeit, wie sie etwa Cartarescus Erzählungsband "Warum wir die Frauen lieben" bietet. Dennoch geht von diesem fiebrigen Opus eine seltsame Faszination aus. Die Magnetspule – so die eigentliche deutsche Übersetzung des Titels "Solenoid" aus dem Rumänischen – zieht hartnäckige Leserinnen und Leser quasi magnetisch in den 900-Seiten-Roman.
Und die schlechte Nachricht? Der Übersetzer Ernest Wichner stand mit "Solenoid" zweifellos vor einer Mammutaufgabe. Umso mehr hätte man dem Buch ein kritisches Lektorat gewünscht. Falsche Pronomen wie "Das Mädchen fuhr mit ihrem Verbandsmull und ihrem Schicksal ... in die Ferien" sind leider kein Einzelfall. Irritierend wird es, wenn die Lehrerinnen und Lehrer ständig einen "Katalog" durch Cartarescus Schule tragen – und ärgerlich, wenn man dann recherchiert, dass der rumänische "catalog scolar" auf Deutsch einfach ein "Klassenbuch" ist.
Ratlos hinterlässt den Leser auch das "Wasserschloss" an der detailliert beschriebenen Straßenbahnschleife des Vorstadtviertels Colentina. Tatsächlich steht an diesem realen Ort ein Wasserturm, und so erscheint das "Wasserschloss" wie ein falsch übersetztes französisches "château d'eau". Mircea Cartarescu taucht tief in die Rätselhaftigkeit der Welt ein. Doch den Wasserturm schildert er mit einer Genauigkeit, die keinesfalls an ein Schloss denken lässt. Es waren sicherlich nicht solche Verwandlungen, mit denen der Autor "Selbsttransplantate für das Hirn eines immer unwahrscheinlicheren Lesers" schaffen wollte.