"Alte Schweizer Sagen und Redewendungen zu erfinden, die es zu jener Zeit gegeben haben könnte, das war ein großes handwerkliches Vergnügen", berichtete Lewinsky im Interview der Zürcher "Sonntagszeitung". Er ist einer der meistgelesenen Autoren der Schweiz. Und ein besonders vielseitiger. In seinem Werkverzeichnis finden sich neben Romanen auch Sitcoms, Musicals, Schlagertexte, Grotesken, Drehbücher und Theaterstücke.
Historische Sujets hat Lewinksy mehrfach in Romanen verarbeitet. Seinen bislang größten Erfolg erreichte er 2006 mit dem in zahlreiche Sprachen übersetzten Roman "Melnitz" - die Geschichte einer jüdischen Familie in der Schweiz zwischen 1871 und 1945, in der sich das Schicksal der europäischen Juden widerspiegelt.
Nun also das Mittelalter. 1315. In einem Dorf im Kanton Schwyz wächst der Ärger über gierige Pfaffen, Herzöge und Habsburger Fremdherrscher. Armut und Krankheiten sind so allgegenwärtig wie die Gottesfurcht. Ablenkung bieten Gerüchte und das Teufels-Anneli, die Erzählerin von Satans-Geschichten, die um so länger und wundersamer werden, je mehr Speis und Trank für das Anneli aufgetischt werden. Lewinsky lässt der Fantasie freien Lauf, steigt tief und stilistisch überzeugend in das 14. Jahrhundert ein.
Sein Ich-Erzähler, der Dorfjunge Sebi, entwickelt sich vom etwas einfältigen Totengräber-Gehilfen zum nachdenklichen Chronisten Schweizer Geschichte - vom Sturm auf das Kloster Einsiedeln bis zur Schlacht am Morgarten. Auf letztere läuft das sprachlich alt-schweizerisch eingefärbte Werk auf seiner Zielgeraden hinaus. Dabei wagt sich Lewinsky auf vermintes Territorium. Bis heute gilt diese erste größere kriegerische Auseinandersetzung zwischen Eidgenossen und Habsburgern vielen als Bestandteil des eidgenössischen Gründungsmythos: freiheitsliebende Männer erheben sich furchtlos und edelmütig gegen fremde Unterdrücker.
Bei Lewinsky liest sich das jedoch wie ein blutrünstiges und zudem unnötiges Gemetzel, bei dem keine Gefangenen gemacht werden. "Die wenigen Habsburgischen, die noch im Sattel saßen, haben sie mit ihren Halbbarten von den Pferden gerissen, den Verwundeten haben sie ihre Spieße in den Bauch gestoßen, und wenn einer immer noch gewimmert hat, haben sie ihm mit ihren Streitkolben den Schädel eingeschlagen..." Mit ihren Halbbarten? Was ist das denn?
Eine Idee Lewinskys, die den Anstoß zum Buch gab und zur titel-gebenden Figur. "Die Hellebarde wurde ursprünglich Halparte genannt, und als ich das Wort zum ersten Mal hörte, habe ich sofort an die Etymologie eines halben Bartes gedacht. Ich bin nun mal ein unverbesserlicher Wortspieler", sagte der Autor im Diogenes-Verlagsinterview.
So erfand Lewinsky einen Mann, der auf wundersame Weise dem Scheiterhaufen entkam - mit einem halbseitig verbrannten Gesicht -, als Flüchtling in ein Schwyzer Dorf kommt, wo er mit dem Spitznamen Halbbart zum Mentor des Ich-Erzählers Sebi wird. Und wie nebenbei die Hellebarde erfindet, beziehungsweise die "Halbbarte". Die Verantwortung dafür, dass die Schlacht am Morgarten zum positiven Schweizer Mythos wurde, weist Lewinsky seinem Erzähler Sebi zu. Der deutet die Blutorgie zu einem Akt des Heldentums um - und wundert sich: "Das war alles so erfunden und erlogen, dass ich gedacht hatte, die Leute würden mich auslachen. Aber sie haben gejubelt..."
Fast 700 Seiten sind bis zu diesem Geständnis zu bewältigen. Manchen wird das etwas zu viel des Guten und der Details aus dem Dorfleben sein. Entschädigt wird man aber immer wieder durch Lewinskys Erzählkunst. Angesichts eines ganzen Universums an Figuren mit ausgeprägten Charaktereigenschaften ging es wohl auch kaum kürzer.
Die Schweizer Literaturkritik nahm das Buch überwiegend freundlich, teils begeistert auf. "Lewinsky läuft in seiner Erzähllust zu Höchstform auf", lobte etwa die "Sonntagszeitung". Der Autor sei eine "Geschichtenmaschine", hieß es in der "Neuen Zürcher Zeitung".
Humor hilft über Längen hinweg. Etwa wenn er das Teufels-Anneli den Dörflern von der schönsten Frau erzählt, "die man sich vorstellen kann, so unwiderstehlich, dass all den kleinen Unterteufeln, die in der Hölle für den Satan arbeiten, der Schwengel aufgestanden ist". Überhaupt ist der Teufel omnipräsent, der liebe Gott freilich auch. Es ist eine Zeit, in der die Weltsicht der Menschen geprägt ist vom andauernden Widerstreit zwischen Himmel und Hölle. Kirchenmänner geben den Wertekanon vor. Und die Obrigkeit - seien es die eigenen Schwyzer Amtsvorsteher oder die verhassten Habsburger -, fordert vom Volk unbedingten Gehorsam.
Aberglaube ist weit verbreitet und für die alten Schwyzer so selbstverständlich wie der Mundmasken-Hass für die Corona-Zweifler unserer Tage. Manchmal scheint in der Mittelalter-Saga die Gegenwart durchzuschimmern. Dass um des Machterhalts willen gelogen wird, Verschwörungstheoretiker und Nationalisten Zulauf haben, kommt einem vertraut vor. Doch auf die Frage der "Sonntagszeitung", falls das nochmal erwähnt werden muss und nicht sowieso klar ist, wie sehr er Figuren der Gegenwart vor Augen hatte, sagte der Autor: "Überhaupt nicht. Ich habe mir eine Mittelalterwelt ausgedacht, alles andere entwickelte sich beim Schreiben."