Eben nur fast, denn Ruge hat die "Kaderakte" von Charlotte drei Jahrzehnte nach ihrem Tod in einem russischen Staatsarchiv aufgetrieben. Die 246 Seiten mit Denunziationen durch andere, handschriftlicher Erklärung dazu und allerlei Amtlichem dienten ihm als Grundlage für einen historischen Roman. Belegt sind die 477 Tage und Nächte der Großmutter und ihres Partners Wilhelm als Bewohner des Hotels Metropol in permanenter Angst, im Zuge der mörderischen Stalinschen Verfolgungsorgien "abgeholt zu werden", entweder zur sofortigen Erschießung oder zur Sklavenarbeit im Gulag. Belegt ist auch die Denunziation durch die Genossin und Mit-Emigrantin Hilde Tal wegen Kontakt zu dem schon als "trotzkistischen Banditen" abgeurteilten, natürlich voll geständigen und hingerichteten KPD-Intellektuellen Alexander Emel. Hilde Tal, von Wilhelm ein paar Jahre vorher für Charlotte verlassen, hat wie alle Angst, abgeholt zu werden. Die Denunziation wird ihr wenig helfen.
Als so gut wie alle Weggefährten aus der Zeit als Agenten für den Nachrichtendienst OMS der Komintern nach und nach aus dem Metropol "abgeholt" sind, schlafen Charlotte und Wilhelm nur noch angezogen. Die Häscher kommen immer nachts, also ist man besser bereit. Obwohl von Beginn an klar ist, dass beide überleben, erzeugt der dramaturgisch clevere Erzähler Ruge eine sich mitunter fast pervers anfühlende Hochspannung, wann und wie es in diesem Irrsinn aus Angst, Verfolgung und fast sicherer Vernichtung die beiden Hauptpersonen erwischen wird. Oder vielleicht einen von ihnen?
Der Autor legt im Epilog offen, wie er an seine historischen Quellen gekommen ist und sie verarbeitet hat. So faktengetreu wie möglich, aber natürlich, so schreibt er, "ist dieses Buch trotz aller Faktizität eine Erfindung". Weil sich der Enkel vorgestellt hat und als Romanautor erzählt, was seine Großmutter gedacht und empfunden haben könnte in dieser Zeit. Charlottes von ihm erdachte Perspektive ist die wichtigste im Buch und richtet den Blick auch auf ihr kompliziertes Verhältnis zum nur bedingt geliebten Partner Wilhelm, anderweitige sexuelle Interessen und auf ihre nicht weniger kompliziertes Verhältnis zu den auf eigene Rechnung in Moskau ums Überleben kämpfenden Söhnen Werner und Kurt (Eugen Ruges Vater).
Wechselweise wird die Geschichte auch durch die Brille Hilde Tals und aus der Sicht des Obersten Militärrichters Wassili Ulrich erzählt. Der machtvolle Handlanger Stalins bringt es am Tag auf einige hundert Todesurteile ohne den geringsten Grund. Ulrich logierte, auch das verbürgt, im Hotel Metropol zwei Etagen unter Charlotte und Wilhelm. Ruge versetzt sich auch in das Innere dieses zugleich abstoßenden und lächerlichen Mannes, wenn er ihn Sex von der verzweifelten Frau eines von ihm Verurteilten verlangen lässt, den er dann nicht zustande bringt.
Auch für den Täter gilt als potenzielles Opfer dasselbe wie für die Hauptpersonen in diesem herausragenden Geschichtsroman: "Jeder konnte denunziert werden. Jeder war in Gefahr. Und ebenso konnte jemand grundlos verschont bleiben." Die mit jeder Seite drängendere Frage, warum Charlotte und Wilhelm trotz alledem bis ans Lebensende gläubig blieben, lässt Ruge bewusst offen und nur ein paar mal "die Ratte des Zweifels" durch ihr Zimmer im Metropol huschen.