Großartige Leistung: Samuel Koch in der Rolle des Judas. Foto: Christian Kleiner
Von Harald Raab
Mannheim. Einst war er stolz auf seinen Namen, den schon seine Vorväter trugen. Doch nun klebt er "wie ein Stück Scheiße an seinem Schuh". Niemand will ihn. Er bietet seinen berühmten Namen dem Publikum an. Keine Reaktion. Wer will schon Judas Iskarioth heißen, als Synonym für Verrat für 30 Silberlinge seine Tage verbringen, als Ausgestoßener, der den Sohn des Christengottes ans Messer geliefert hat. Auch nicht in unserer gottfernen Zeit. Es soll Länder geben, in denen es untersagt ist, einem Sprössling diesen Namen wie ein Kainsmal aufzudrücken.
Im Nationaltheater Mannheim ist Grenzerfahrung geboten, eine schmerzensreiche Psychoanalyse. Der Name des Stückes ist Programm - "Judas". Jetzt war Premiere dieses Monologs von der Niederländerin Lot Vekemans.
Hoch oben schwebt er über der nachtschwarzen Bühne. Er kauert auf einem Sitz, der wie in einem Kettenkarussell am Schnürboden aufgehängt ist. Scheinwerfer schneiden sein Gesicht aus der Finsternis wie auf einem Fahndungsfoto. Und damit er jedem ins Gedächtnis gebrannt wird, umgeben den Delinquenten zehn seiner maskenhaften Konterfeis. Auch sie beginnen zu sprechen, formulieren Anklage und Verteidigung, bilden mit dem Original auch mal einen synchronen Chor.
Samuel Koch, mit kahl rasiertem Schädel, gibt dem Schreckens- und Leidensmann Gesicht und vor allem Stimme. Mehr kann er in seiner fixierten Position nicht tun - mal leise zu sich selbst sprechend, seine Gedanken ordnend, mal wie ein Erzähler, mal aggressiv und suggestiv wie ein Agitator seinen Zuhörern zugewandt. Es gibt eine Menge zu klären, eine Religionsstory aus anderer Perspektive zu betrachten. Gäbe es die Vollendung eines Heilsplans ohne den Verrat - das Gute ohne das Böse, die Wahrheit ohne die Lüge, Frieden ohne Krieg?
Da ist der Grunddissens zwischen dem Meister und ihm. Jesus will in seine Rolle als Opferlamm, als Gottessohn und wie ein Mensch am Kreuz krepieren. Judas will ihn als Rebell, der sein Volk aus dieser Zuschreibung der Propheten befreit, die Römer besiegt, glorreicher König der Juden wird. "Ich wollte nicht, dass er stirbt. Ich wollte ihn wachrütteln. Jemand musste ihm klarmachen, dass seine Idee von der Erfüllung der Prophezeiungen eine Wahnidee war, ein Traum."
Dialektisches Denken statt in Dogmen eingehegter Glaube ist gefragt. Zweifel ist produktiver als Glaubensgewissheit. Fragen zu stellen, ist Motor des Fortschritts, bricht Klischees auf. "Wenn man nichts tut, kann man nichts falsch machen, aber auch nichts richtig." Und: "Glauben will man behalten. Zweifel will man loswerden. Dafür muss man etwas tun. Wer zweifelt, muss sich entscheiden, um am Leben zu bleiben."
Wie hätten wir gehandelt? Eine zentrale Frage. Auch zuerst Hosianna gerufen und dann geschrien: Kreuziget ihn! Peinliches Verhör des Publikums ist geboten. "Wenn hier jemand für eure Sünden gestorben ist, dann bin ich das." Judas, dem man nicht einmal die Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ, ihn zu töten. Er musste sich selbst an einem toten Baum erhängen. Ein Erlöser auch er, der Verräter des Herrn, gelitten und gestorben für unser Seelenheil?
In dieser Verhandlung über einen Menschen, in der die Menschheit über sich selbst zu Gericht sitzt, senkt sich der Sitz des Judas auf Zuschauerniveau. Schließlich versinkt er hinter Nebelschwaden im Bühnenboden, in der Hölle, um gleich danach in einem elektrischen Rollstuhl wieder aufzutauchen - quicklebendig, aber ein Behinderter, ein Mensch. Eine großartige, beeindruckende Leistung von Samuel Koch und seinem Regisseur Philipp Rosendahl, die Bühne, wirkungsvoll stilisiert von Marina Schutte.