Als heutiger Nosferatu voll in Aktion: Rocco Brück in Sivan Ben Yishais Drama „Die Tonight, Live Forever – oder Das Prinzip Nosferatu“. Foto: Christian Kleiner
Von Heribert Vogt
Mannheim. Im verbalen Sturzflug geht es durch eine albtraumhafte Nacht nicht der langen Messer, sondern der langen Zähne. Denn zu Beginn steigt ein langfingriger, finster staksender Nosferatu aus seinem schwarzen Nebelsarg. Allerdings tritt der Untote nicht als die berühmte Vampirfigur aus dem gleichnamigen frühen Horrorfilm von Friedrich Wilhelm Murnau mit ihren gequälten Seelenzuständen auf. Vielmehr lebt der gepeinigte Mensch, dem man nun im Nationaltheater Mannheim begegnet, hier und heute.
Das finster dahinrauschende Einpersonenstück "Die Tonight, Live Forever – oder Das Prinzip Nosferatu" von Sivan Ben Yishai, der Hausautorin des Nationaltheaters in der vergangenen Spielzeit, hatte in der einstündigen Inszenierung von Jessica Weisskirchen im Schauspielhaus Premiere. In der Bühnenszenerie ein goldenes Einhorn mit rot glühendem Auge, ein Zerrspiegel sowie der schwarze Sarg mit blutrotem Hintergrund – zudem eine Mischung aus stylischem Motorradhelm und blitzender Diskokugel. Aber da fährt nie ein Motorrad vor, mit dem man zu neuen Horizonten aufbrechen könnte.
Was macht eigentlich ein Corona-Lockdown mit den Menschen? Er isoliert sie in ihrer Wohnung – aber was geschieht mit ihrer Psyche? Darüber haben sich Schauspieler Rocco Brück und Regisseurin Jessica Weisskirchen in der Phase der massiven Einschränkungen Gedanken gemacht und diese in der Nosferatu-Inszenierung umgesetzt. Man kann geradezu in ein tiefes schwarzes Loch fallen: Angst, Wut, Verunsicherung, Desorientierung und Aussichtslosigkeit spielen große Rollen.
Vielleicht sieht man bald kein Licht mehr und gerät in einen Strudel dunkler Irrungen und Wirrungen. In dem man mal Frau, mal Mann ist. In dem man von sexueller oder ökonomischer Macht getrieben wird. Wo Furcht und Sorge vor dem Scheitern, dem Brustkrebs oder der Entnahme von Organen regieren. Diesen labyrinthischen Zustand kann man auch den real existierenden Kapitalismus nennen. Selbst in Zeiten der Corona-Pandemie. Da ist der Einzelne nicht nur für sein wirtschaftliches und gesellschaftliches, sondern auch für sein biologisches Funktionieren verantwortlicher und mitunter allein gelassener Unternehmer.
Jedenfalls in dieser Inszenierung mit dem Fokus auf das Gefühlsleben der Beleidigten und Erniedrigten von heute. Und auch die können eine wahre Nosferatu-Folter erleiden. Aber so bedrohlich, ja existenziell die Story auch daherkommt, Rocco Brück balanciert sie doch mit viel Situationskomik aus. Der schmale Darsteller entwickelt eine ganz spezielle Körpersprache für die hagere entwurzelte Nachtgestalt, bewegt sich mit unsicheren Schritten, fuchtelt mit langen Armen ins Leere und fummelt sich zwischendurch immer mal wieder das Faschings-Vampirgebiss in den Mund, das ansonsten vor seinem Bauch baumelt.
Ebenso virtuos der tosende Sprachfluss. Obwohl die Figuren – Frauen und Männer – nahezu übergangslos wechseln; wie auch die Orte. Mal geht es um den Immobilienmarkt im französischen Rennes, mal um die Knochenkatakomben von Paris. Brücks Nosferatu durchspricht alle Wendungen mühelos, gibt den Einhorn-Flüsterer, kann sich als Untoter im (Zerr-) Spiegel nicht erkennen, wechselt im Nu sein Kostüm aus dem Sarg.
Insgesamt ein Abend mit einem wahren Horrorszenario, in dem flüchtige innere Stimmen unter allen Umständen vampirartig zur Selbstausbeutung aufrufen, damit letztlich die Wirtschaft am Laufen gehalten wird. Aber eine solche Versklavung kann auch für die Gesellschaft nicht gut sein. Im wirklichen Leben ergibt sich die Alternative aus dem Umkehrschluss. Auf der Bühne jedoch hält Brück die dunkle Macht durch seinen aberwitzigen Elan in Schach.
So hält er die Möglichkeit offen, dass es nach diesem Albtraum nicht nur ein böses, sondern auch ein schönes Erwachen geben kann.
Begeisterter Applaus.