Von Matthias Roth
Heidelberg. Das ¡Adelante!-Festival in Heidelberg ist vorüber, davor war das Heidelberger Theater beim Festival "Santiago a Mil" in Chile zu Gast. Die Vorbereitungen dauerten Jahre. Wir trafen uns mit dem Intendanten zum Bilanz-Gespräch.
Herr Schultze, lässt sich in kurzen Worten ein Resümee ziehen?
Ich bin sehr glücklich, dass es uns gelungen ist, ein Festival zu machen, das nicht nur Gastspiele einlädt, sondern wirklich ein gesellschaftliches, politisches und historisches Bild Iberoamerikas zeichnet. Durch die Koproduktion von "La Flauta Mágica" kam eben eine wirkliche Zusammenarbeit zustande, und das ist natürlich in der Sache viel nachhaltiger als ein reines Gastspiel-Festival. Darauf kommt es uns auch an, und diese Mischung werden wir weiter verfolgen.
Ergaben sich durch den Kontakt mit "Santiago a Mil" neue Perspektiven?
Am Rande der Festivals gab es unzählige Gespräche mit Vertretern aus anderen Ländern, aus Bolivien, Brasilien, Uruguay. Es gibt ein sehr großes Interesse, und meine Einschätzung ist, dass wir durch dieses zweite ¡Adelante!-Festival an Bedeutung gewonnen haben gegenüber unseren Partnern. Es kamen Leute aus ganz anderen Ländern nach Heidelberg, Festivalleiter aus Paris oder Barcelona etwa, die genau beobachteten, was da passiert. Dass unser Festival so wahrgenommen wird, das war auch ein bisschen überraschend für uns. So hat die Schweiz angefragt, ob wir mit Bezug auf Iberoamerika nicht kooperieren wollen, wir sind auch mit Italien im Gespräch. Man sieht uns als Experten auf dem Gebiet.
Wie sehen denn die Pläne in Iberoamerika selbst aus: Kann man da nun auf ein stabiles Beziehungs-Fundament bauen und Kontakte erweitern?
Auch da gab es viele neue Kontakte und Ideen. Etwa die, ob man sich in Südchile engagieren kann, weil dort eine ganz besondere Gegend und Kultur ist. Das ist sehr spannend gerade im Zusammenhang mit dem Kolonialismus und den Mapuche-Völkern dort: Es gibt einen ganz konkreten Kontakt zum Chiloé-Festival, ein Insel-Festival in Patagonien, wo wir zusammen mit dem Deutschen Botschafter in Santiago über eine Kooperation nachdenken. Da fanden erste Gespräche statt. Das ist das eine. Das andere ist eben, dass Festivalleiter aus großen Städten auf uns zukommen und unseren Rat oder unsere Zusammenarbeit suchen. Also das Theater Heidelberg übernimmt da über die Grenzen hinweg eine Vorreiterrolle. Ein Theatermacher wollte wirklich wissen: "Warst du denn dabei in Chile? Wir kennen uns da doch gar nicht aus!" Vor 15 Jahren noch war ja Iberoamerika ein großes Thema, aber das ist fast vollkommen aus der Theaterlandschaft verschwunden. Schon beim ersten ¡Adelante!-Festival vor drei Jahren merkte man, dass es da heute viele weiße Flecken gibt und keiner genau weiß, was da gerade passiert. Dass da nun auch diese große gesellschaftliche Relevanz dazu kam seit 2017, das ist für unser Festival geradezu unfassbar und weckt Interesse.
Das Festival wurde sehr gut angenommen vom hiesigen Publikum. Was könnten die Gründe dafür sein?
Ich glaube, es sind mehrere Gründe, und das Interesse war auch schon beim ersten Festival 2017 sehr groß. Überraschend war jetzt, wie viele Menschen hier Spanisch sprechen! Es ist auch bei den Parties aufgefallen, dass es eine Art Treffpunkt ist für unser treues Theaterpublikum, aber eben auch für andere, neue Publikumsschichten. Es sprachen mich auch Kolleginnen und Kollegen aus Uruguay, Mexiko oder Argentinien an, die erstaunt waren über die wirklich großartigen Reaktionen des Heidelberger Publikums. Das war wirklich erstaunlich, und das hat Ihr Kollege Volker Oesterreich ja geschrieben, dass die Leute mit dem letzten Wort auf der Bühne im Parkett aufsprangen bei den "Nicht auszumalenden Landschaften" aus Chile etwa. Das war wirklich enorm!
In Chile selbst ist ja der Applaus eher dezent, nicht unfreundlich, aber auch nicht gleich enthusiastisch. Das Publikum dort hält sich eher bedeckt.
Absolut! Das ist in Iberoamerika ganz anders als hier. Hier standen die Künstler mit Tränen in den Augen auf der Bühne ob der Reaktionen des Publikums! Das hat die alle völlig überwältigt.
Die Produktionen, die man hier sehen konnte, waren auch im Stil sehr authentisch: Man kennt das von den "Experten des Alltags" bei Rimini Protokoll. Es berührt, weil es so "echt" ist, es wirkt nicht "gespielt".
Ich glaube, dass das auch die ganz große Qualität des iberoamerikanischen Theaters ist und die Themen mit Dokumentartheater oder Rechercheprojekten so klar auf die Bühne gebracht wurden. Die Falkland-Kriegsveteranen oder diese jungen Mädchen, die der Erwachsenengesellschaft ihre Wut entgegenschleudern: Das sind natürlich Themen, denen man sich nicht entziehen kann! Es ist ja immer die Frage: Wer erzählt’s? Diese chilenischen Mädchen: Man stelle sich das mit Schauspielerinnen vor, das hätte sicher nicht die gleiche Wirkung gehabt.
Wie wird es denn nun weitergehen? Sie erwähnten Südchile.
Ich kann mich da im Moment noch nicht festlegen. Was feststeht, ist, dass wir mit "Flauta Mágica" nach Bologna/Italien gehen: Das dortige Festival war auch Kooperationspartner. Offerten und Möglichkeiten haben wir sehr, sehr viele. Wir wollen unser Engagement in Lateinamerika halten. Ich bin sicher, dass es z.B. mit Uruguay weitergehen wird. Aber wir müssen auch sagen: Wir können nicht alles machen, was im Moment am Horizont lockt. Das ist nicht möglich. Wir werden uns ganz in Ruhe zusammensetzen und möchten, wenn auch sicher nicht in zwei Jahren, so doch in dreien oder vieren, auf jeden Fall ein weiteres "¡Adelante!"-Festival machen. Denn wir denken, dass es wichtig ist.
Die Stücke-Auswahl war beeindruckend beim jetzigen Festival: Wie lange Vorlaufzeit braucht sowas?
Das ist sehr zeitintensiv. Da müssen viele Gespräche geführt werden und so weiter. Aber wir bleiben dran und beginnen irgendwann unsere nächsten Kooperationsprojekte zu stricken. Wir sind auch am Überlegen, ob andere Modelle der Zusammenarbeit mit Iberoamerika möglich sind. Es gibt ja da unglaublich gute Regisseure, wie man sah, und vielleicht bietet sich die Möglichkeit, den einen oder anderen nach Heidelberg zu holen für eine Arbeit mit unserem Ensemble. Aber jetzt gibt es erst mal die Einladung unserer "Brandstifter"-Inszenierung nach China.
Kulturbürgermeister Dr. Joachim Gerner sprach in Santiago mit Vertretern der Goethe-Institute auch über das Netzwerk der "Unesco Citys of Literature", das in Südamerika noch nicht sehr verankert ist. Könnte auch dies eine Schiene sein, auf der sich Theaterautoren einklinken?
Natürlich! Ich traf Übersetzer, die überlegen, mehr Stücke aus Iberoamerika ins Deutsche zu übertragen und so dem Publikum zugänglich zu machen. Das ist freilich auch eine Blüte dieses Festivals: Wir haben da eine Dichte an Vernetzung, die ich mir vor vier Jahren noch nicht hätte träumen lassen. In Chile hatten wir Kontakte über die Goethe-Institute, über die Botschaften, über das Auswärtige Amt und die Player vor Ort. Da ist noch sehr viel mehr möglich.
Kann man sagen, dass speziell Heidelberg in Iberoamerika inzwischen eine feste Größe im kulturellen Austausch mit Deutschland ist?
Ich bin da vorsichtig: Wir waren bei einem der größten iberoamerikanischen Theaterfestivals eine der zentralen Produktionen, und das erregte Aufmerksamkeit. Die vielen Gespräche und Angebote zur Kooperation belegen das, und ich bin sicher, dass Heidelberg zumindest in Kreisen des Theaters dort sehr genau wahrgenommen worden ist. Das hat die Bedeutung der Stadt mit Sicherheit erhöht. Und ganz nebenbei: Wir haben auch den Tourismus gut bedient. Alle iberoamerikanischen Gäste hier waren auf dem Heidelberger Schloss! Das hat die alle sehr interessiert.