Stimmig kostümiert: Ensembleszene aus der Züricher Musical-Inszenierung von „Les Misérables“. Foto: Maybanks
Von Benjamin Auber
Zürich. Die Zeit ist reif, die Elenden haben genug. Die Hörner blasen kräftig und die Geigen dürfen nach schier endlosen Vorab-Reprisen endlich richtig loslegen. Es ist die Zeit für "One Day More", eine der virtuosesten Szenen des Genres, wenn die rote Revolutionsfahne im Paris der 1830er-Jahre beherzt geschwenkt wird. Dabei holt das Ensemble in Cameron Mackintoshs Inszenierung des Musicals "Les Misérables" alles aus sich heraus. Dann, spätestens dann, erkennt das Publikum im Züricher Theater 11, dass es Geschichte miterlebt. Nicht nur wegen der längst vergessenen Julirevolution aus dem Geschichtsunterricht, auch ein Stück Bühnengeschichte wird dabei lebendig. In den vergangenen 40 Jahren ist das Musical von Claude-Michel Schönberg (Musik) und Alain Boublil (Libretto) nicht gealtert, 120 Millionen Zuschauer haben es seit der Uraufführung 1980 in Paris schon gesehen.
Dabei ist der Zugang nicht gerade leicht: ultraschnelle Dialoge, durchorchestrierte Szenerie, eine Vielzahl von Hauptakteuren und wuselige Interaktionen, bei denen selbst die Nebendarsteller ein straffes Pensum aufs Parkett zaubern müssen. Das alles gelingt in der englischsprachigen Produktion, die im Anschluss nur noch in Großbritannien unterwegs sein wird, mühelos – unterstützt von der famosen Musik, die jeder schon auf die ein oder andere Weise mal im Ohr hatte, beispielsweise "Do Your Hear the People Sing".
Im Mittelpunkt steht das über Jahrzehnte elektrisierende Versteckspiel von Ex-Häftling Jean Valjean (Dean Chisnall), der vor Polizeiinspektor Javert (imposant: Nic Greenshields) flüchtet und als Ehrenmann ein neues Leben beginnen will ("Who Am I"). Alles ist stark an der Originalversion orientiert, auch das Bühnenbild. Ziehtochter Cosette (jung: Ella Mitchell) wächst größtenteils bei den Wirtsleuten Thénadier (beide herrlich verschroben mit "Master of the House": Cameron Blakely und Helen Walsh) auf, weil ihre Mutter Fantine (Katie Hall) sich nicht um sie kümmern kann, bis Valjean sich ihrer annimmt.
Im weiteren Verlauf knüpft die ältere Cosette (Charlie Burn) in kurzen Momenten die Verbindung zu Revolutionär Marius (Felix Mosse). "A Heart Full of Love" pocht dabei selbst auf den voll besetzten Rängen. Tragischer, trauriger, tiefer, aber auch aufgeweckter spielt sich Eponine (Frances Mayli McCann) in den Vordergrund. Sie interpretiert "On My Own" auf höchstem Niveau, den Broadway- bzw. Film-Stars Lea Salonga oder Samantha Barks in nichts nachstehend. Die geheime Liebe zu Marius kostet sie auf den Barrikaden schließlich das Leben. Das gleiche Schicksal erleidet auch der flinke Gavroche, selbstbewusst gespielt von Bryce Sanders. Erstaunlich, was für eine fünfwöchige Tour-Produktion so alles auf die Beine gestellt werden kann. Das düster anmutende, aber opulente Bühnenbild lässt kaum etwas vermissen, etwa beim Umbau in das großstädtische Paris. Der mit Lichteffekten ideal in Szene gesetzte Barrikaden-Kampf, die an die Leinwand geworfene Kanalisation, wo Valjean mit Marius umherirrt – all das beeindruckt ebenso wie Javerts gekonnt spektakulärer Sturz von der Brüstung.
Alle Darsteller überzeugen durch ihre zurückgenommene britische Art. Das ist auf der einen Seite wohltuend, andererseits hätte das Ensemble – wie die amerikanischen Kollegen – hier und da noch mehr Temperament zeigen können. Auch das Orchester kann den insgesamt hohen Ansprüchen genügen, verschmerzbar sind dabei einige etwas hölzern klingende Keyboard-Passagen. Das Ensemble vermag zwar auch nicht, die langatmigen Passagen Ende des zweiten Aktes zu kaschieren. Doch das alles dürfte den affinen Musical-Gänger nicht davon abhalten, einen Abstecher in die Schweiz in Erwägung zu ziehen. Das auf Victor Hugos gleichnamigem Roman basierende Musical ist ein zeitloser Klassiker, der mit Herz, Schmerz, Gewalt, Melodienreichtum und leidenschaftlichem Spiel seine Kraft vollständig entfalten kann.
Info: Noch bis zum 23. Februar im Züricher Theater 11.