Literatur-Nobelpreis

Das ist der Hintergrund zur Kritik an Peter Handke

Das hier erstmals veröffentlichte Schreiben des designierten Literatur-Nobelpreisträgers steht im Kontext der heftig geführten Serbien-Debatte

15.10.2019 UPDATE: 19.10.2019 06:00 Uhr 1 Minute, 56 Sekunden
Peter Handke hat diesen Brief auf einem Blatt im DIN-A4-Format geschrieben. Das Foto links zeigt ihn in den 1990er Jahren. Es wurde für eine Ausstellung im Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg nachträglich aufgeklebt. Handkes Telefonnummer wurde mit Rücksicht auf die Privatsphäre des Schriftstellers unkenntlich gemacht.
Repro: RNZ​

Von Volker Oesterreich

Heidelberg/Wien. Seit der Bekanntgabe der Schwedischen Akademie, dass die Polin Olga Tokarczuk und der Österreicher Peter Handke am 10. Dezember mit den Literatur-Nobelpreisen für 2018 und 2019 geehrt werden, vergeht kein Tag, an dem nicht über Handkes Rolle während und nach dem Balkankrieg debattiert wird. Der Schriftsteller hatte 1996 mit dem Essay "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" für viel Wirbel gesorgt, der sich wiederholte, als Handke 2006 am Grab des als Kriegsverbrecher angeklagten serbischen Politikers Slobodan Miloševics sprach. Ist Handke ein geschichtsvergessener Autor? Will er gar einen Kriegsverbrecher rehabilitieren? Diese Fragen werden jetzt wieder aufs Heftigste diskutiert.

Nach der Nachricht aus Stockholm empörte sich der aus Bosnien stammende, 1992 nach Deutschland geflohene und in Heidelberg aufgewachsene Schriftsteller Saša Stanišic als einer der Ersten über die Würdigung Handkes mit dem Nobelpreis. Am vergangenen Montag war Stanišic selbst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden. Während der Verleihung griff der 41-Jährige den Nobelpreisträger aus ganz persönlichen Motiven an: "Ich hatte das Glück, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt", sagte er in Frankfurt. "Dass ich hier heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat."

Handke reagierte am Mittwoch empört auf Journalisten-Fragen zu Stanišics Äußerungen: "Ich bin ein Schriftsteller, komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes, lasst mich in Frieden und stellt mir nicht solche Fragen." Am Freitag verteidigte der Regie-Altmeister und Handke-Experte Claus Peymann im RNZ-Interview seinen langjährigen künstlerischen Weggefährten als bedeutenden Dichter: "Ich erwäge, ob ich nach Stockholm mitfahre, um dabei zu sein, wenn Handke den Thron der Weltliteratur besteigt", sagte der Theatermacher, der an diesem Sonntag auf Einladung des Heidelberger DAI über das politische Theater spricht.

Ein spannendes Streiflicht auf den neu entfachten Konflikt wirft auch das hier veröffentlichte Schreiben Handkes an den Heidelberger Germanistik-Professor Helmuth Kiesel. Der Literaturwissenschaftler hatte Handke 1995 als Poetikdozenten eingeladen, erhielt aber zunächst eine Absage: "Ich hätte ihn als Vertreter der zweiten Avantgarde gerne hier gehabt", sagte Kiesel der RNZ. "Im Jahr darauf, als Handke wegen seiner Jugoslawien-Einlassungen massiver Kritik ausgesetzt war, erinnerte er sich aber an die Einladung und ließ anfragen, ob er zu einer Lesung nach Heidelberg kommen dürfe. Die fand dann auch statt.

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Die Neue Aula war rappelvoll, der Auftritt von Handke priesterlich." Auf dem Weg zur Neuen Aula habe Handke die Sorge umgetrieben, die Lesung könne gestört werden, doch Kiesel beruhigte ihn. "Ich gab die Standard-Antwort für solche Fälle: Diese Universität habe dergleichen in den mehr als 600 Jahren ihrer Geschichte schon so oft erlebt, dass es kein weiteres Aufsehen erregen würde."

Handke habe daraufhin sehr konzentriert gelesen, erinnert sich Kiesel: "Im Saal herrschte große Stille. Am nächsten Tag bin ich mit ihm einige Stunden durch Heidelberg spaziert und ins Neckartal gefahren. Er war, obwohl er als schroff und abweisend gilt, ein sehr freundlicher und aufgeschlossener Gesprächspartner, kein bisschen herablassend oder belehrend (wie viele andere Autoren), sondern sehr interessiert an meinen Lebensumständen und Ansichten."