Ein Opferritual-Feuer auf der Weihnachtsinsel vor Indonesien, die unter australischer Verwaltung steht und eine "Einwanderungshaftanstalt" beherbergt. Foto: Grandfilm/Steppenwolf
Von Wolfgang Nierlin
Heidelbeg. Die vielfältige Geräuschkulisse des nächtlichen Urwalds scheint total, als ein junger Mann einen Maschendrahtzaun überwindet und flieht. Die Kamera folgt seinem hektischen Lauf zwischen den Bäumen, registriert seinen gehetzten Atem, der jetzt den akustischen Raum dominiert, bis plötzlich ein alles durchdringender, lange anhaltender Schrei die Exposition beendet. Am nächsten Morgen meldet eine australische Nachrichtenstation den Tod eines jungen Migranten, der aus der "Einwanderungshaftanstalt" der Weihnachtsinsel geflohen sei.
Dieses Tropenparadies im Indischen Ozean liegt weit vor der Küste Indonesiens und noch weiter entfernt vor Australien, das die Insel verwaltet und dort in einem eigens eingerichteten Hochsicherheitslager Asylsuchende interniert, um diese erst gar nicht auf dem Kontinent einreisen zu lassen. Stattdessen werden die Flüchtlinge oft schon auf dem Meer "abgefangen" und festgesetzt.
Von diesem politischen Hintergrund erzählt Gabrielle Brady in ihrem Langfilmdebüt "Die Insel der hungrigen Geister" zunächst nicht oder zumindest nicht explizit. Stattdessen beobachtet sie auf sehr intime Weise in mehreren langen Sequenzen die Arbeit der Traumatherapeutin Poh-Lin Lee mit Geflüchteten. Geduldig und einfühlsam beschäftigt sich diese mit den traumatisierten Gefangenen, ihren Fluchtgeschichten und Haftbedingungen, die von den Patienten mittels Miniaturfiguren nachgestellt, veranschaulicht und emotional vergegenwärtigt werden. "Die Hölle ist dort, wo man Leid sieht", sagt einer von ihnen, dem man jegliche Perspektive genommen hat und der wie viele andere Mitinhaftierte gezwungen ist, in völliger Ungewissheit zu verharren.
Sie seien Gefangene zwischen zwei Welten, alles werde immer schlimmer. Gabrielle Brady greift diese Zeugnisse über eine menschenunwürdige "Zwischenwelt" auf, um ihren metaphorischen Gehalt in eine Analogie zu zwei Phänomenen zu setzen, die sie auf der Weihnachtsinsel beobachtet: Zum einen dokumentiert sie die Wanderung von Millionen Krabben vom Dschungel zum Meer sowie die Arbeit ihrer zivilen Helfer; zum anderen zeigt sie die Opferrituale für die umherirrenden Seelen jener Verstorbenen, die keine letzte Ruhestätte gefunden haben.
Brady verwendet in ihrem Film bewusst Mittel der fiktionalen Inszenierung, um auf suggestive Weise dem dokumentarischen Gehalt eine sowohl dramatische wie emotionale Note zu verleihen. Vor allem geht es ihr aber um Nähe zu den Opfern und zu ihrer langjährigen Freundin Poh-Lin Lee, deren aufopferungsvolle Arbeit sie ebenso subjektiv begleitet wie die Szenen mit Lees Familie, die als Kontrast zu den Leiderfahrungen der Geflüchteten und deren zerrissenen Familien fungieren. Als Poh-Lin Lees Arbeit an eine schmerzliche Grenze gelangt, wird der Film selbst zum "Therapeuten" für eine verwundete Seele.
Info: Heidelberg, Karlstorkino, OmdtU: 19., 23. und 27. Oktober.