Von Heribert Vogt
Kairo/Heidelberg. "Immer wieder geht die Sonne auf" – so heißt ein bekannter Song von Udo Jürgens. Aber in den altägyptischen Schöpfungsmythen ging sie irgendwann auch zum ersten Mal auf und ließ die Welt aus sich entstehen. Als Ort dieses unerhörten Geschehens erscheint das sagenumwobene Heliopolis mit seinem Sonnentempel, die heiligste Stadt im alten Ägypten und dort das Zentrum der Welt. Aber die berühmte Kultstätte ist heute weitgehend verschwunden – im Boden der Megacity Kairo mit ihren 23 Millionen Einwohnern.
Das historisch so bedeutsame Areal liegt im Kairener Stadtteil Matariya mit etwa drei Millionen Menschen, was fast der Größe Berlins entspricht. Dort befindet sich am Ort des einstigen Sonnentempels von Heliopolis noch eine brachliegende Freifläche, die jedoch stark von illegalen Bauprojekten und Mülldeponien bedroht ist. Von der großen heliopolitanischen Vergangenheit zeugt vor allem noch ein Obelisk im heutigen Freilichtmuseum von Matariya. Es handelt sich um den ältesten aus einem Stein gearbeitete Kolossalobelisken in Ägypten. König Sesostris I. ließ das 20 Meter hohe Monument um 1950 v. Chr. anfertigen. Und seither ragt der Obelisk ununterbrochen seit 3950 Jahren empor.
In seinem Umfeld arbeitet ein deutsch-ägyptisches Team seit über acht Jahren unter widrigen Umständen daran, von Heliopolis zu retten, was noch zu retten ist. Co-Grabungsleiter ist der Leipziger Ägyptologe Dietrich Raue, der nun einen Überblick gibt in dem Buch "Reise zum Ursprung der Welt. Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis". Raue hat von 1986 bis 1996 an der Universität Heidelberg studiert und bei dem renommierten Ägyptologen Jan Assmann promoviert. Hier wurde ihm allerdings auch 1996 auf einem Parkplatz der Innenstadt der blaue VW Käfer gestohlen, der ihm zuvor in Ägypten lange Zeit wertvolle Dienste geleistet hatte. Heute ist Raue Kustos des Ägyptischen Museums Leipzig.
Als der Ägyptologe seine Forschungsarbeit beginnt, sind nur noch Reste von Heliopolis zu sehen – der magische Ort des 2. bis 1. Jahrtausends v. Chr. gilt als verloren. Aber bei einer frühen Reise nach Kairo stößt Raue auf die noch nicht überbauten Teile des alten Tempelgebiets. Hier war einst der Ort der Welterschaffung mehr als 2400 Jahre lang ein heiliger Platz, an dem der größte und wichtigste Tempel des alten Ägypten entstand. An dessen Bedeutung hat man in der Wissenschaft nie gezweifelt, gleichwohl haben an dieser Stelle nur wenige Archäologen gearbeitet. Nun erzählt Dietrich Raue ausgehend vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis in die Gegenwart von der mythischen, kulturellen und historischen Strahlkraft des Sonnenheiligtums.
Allerdings ist es aufgrund der schwierigen Fundsituation nicht möglich, eine zusammenhängende Geschichte von Heliopolis zu erzählen. Deshalb zieht Raue neben den bruchstückhaften Objekten aus den Grabungen auch die international verstreuten Schriftquellen heran, die von der Stadt Zeugnis ablegen.
Auf diese Weise entsteht eine Darstellung des alten Ägypten mit Heliopolis als geistig-spirituellem Kraftfeld. Dabei wird der Glanz des mythischen Schöpfungsortes auch von der Heidelberger Wissenschaft widergespiegelt. Denn Raue bezieht sich nicht nur mehrfach auf seinen Doktorvater Assmann, sondern auch auf den heute an der Universität tätigen Ägyptologen Joachim Friedrich Quack, der zudem in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am Forschungsprojekt "Der Tempel als Kanon der religiösen Literatur Ägyptens" beteiligt ist. Ebenfalls zur Sprache kommt der hiesige Klassische Archäologe Tonio Hölscher.
Und Raue taucht tief ein in die über 3500-jährige Geschichte der altägyptischen Kultur, bis hinab zum mythischen Beginn der Weltentstehung, der insbesondere mit Heliopolis verbunden ist. Schon in der Antike galt die Stadt als beispielhaft für Ägypten. Für die Bewunderer war sie ein Hort der Weisheit, für die Gegner ein Ort der Apokalypse, die man dem Staat am Nil wünschte.
Die damaligen Vorstellungen vom Schöpfungsvorgang gingen davon aus, dass der heliopolitanische Hauptgott Atum die zentrale Figur am Anfang der Welt war. Der Name Atum wird heute mit "das All" wiedergegeben. Denn mit ihm ist zwar das Potenzial zu allem da, aber noch nichts ist wirklich vorhanden. Es folgt das Wunder: Ohne Anstoß verdichtet sich das All Atum, und aus dem Nichts entsteht das Licht – der erste Sonnenaufgang, der Zeit und Entwicklung ermöglicht.
In Heliopolis standen einst mehr als 16 Obelisken. Sie stellten täglich den ersten Kontakt mit den Strahlen der aufgehenden Sonne her. Praktisch alle Pharaonen bauten hier Monumente und bezogen daraus ihre Legitimität. So stand die Herrschaft über Jahrtausende im Einklang mit der Schöpfung – entscheidend war nicht die pure Stärke, sondern das Recht. Aber Heliopolis galt nicht nur als Ursprung der rechtmäßigen Herrschaft, wie Raue darlegt: "Die Urzeit als Utopia, eine Zeit der Reinheit, ohne Tod oder Schmerz und ohne Unrecht, ist in dieser Vorstellungswelt der Rahmen, in dem vorbildhaft Neues entsteht: Wissenschaft, Dichtung, gute gesellschaftliche Normen."
Zur Aura von Heliopolis gehörte der Ruf, ein geistiges Zentrum für geheime, rituelle sowie kosmische Dimensionen zu sein. Und schließlich reichte die Strahlkraft der Stadt über Ägypten hinaus. So wurden schon seit der Antike ägyptische Obelisken – darunter auch aus Heliopolis – in jüngere Metropolen transportiert. Sie gelangten etwa nach Rom, London, Paris, Florenz, New York oder Istanbul. Auch das kaiserzeitliche Deutschland hatte einst ein Auge auf den heute noch in Kairo stehenden Obelisken aus Heliopolis geworfen. Von dort stammt zum Beispiel auch der Obelisk auf der Piazza del Populo in Rom. Und im Ägyptischen Museum Kairo kündet ein Statuenpaar von Heliopolis. Es stellt den heliopolitanischen Hauptpriester Rahotep und seine Frau Nofret dar (um 2650 v. Chr.).
Die beiden Grabstatuen gehören zu den Meisterwerken des Hauses am Tahrir-Platz. Raue erzählt vom Schrecken der Grabungsarbeiter am Fundort Meidum, als das Licht ihrer Fackeln auf die funkelnden Augeneinlagen aus Bergkristall traf. Da Rahotep auch Prinz war, wird hier die Verbindung von Tempelkult und Königsherrschaft deutlich.
Beim aktuellen Grabungsprojekt gab es am 7. März 2017 einen besonders spektakulären Fund, den Raue beschreibt. Zunächst hatte man "wie gewöhnlich" Probleme mit dem Grundwasser, dann fand man einen sehr großen Stein: "Und kurz darauf war klar, dass es sich um eine Statue … handelte. Die polierte Oberfläche aus perfekt geglättetem beigebraunem Quarzit stellte sich bald als eine große Schulter heraus, und langsam wurde auch die Partie erreicht, in der nun der Hals und die Brust zu erkennen waren. Bei der Erweiterung der Drainage kam noch ein weiteres großes Fragment zutage: die Krone von Oberägypten, die auf dem Rand des Torsos auflag. Es wurde Zeit, den Antikenminister zu informieren."
Es handelte sich um eine Figur des Königs Psammetich I. (664-610 v. Chr.). Mit ihr war die erste Kolossalstatue der Zeit zwischen 1200 und 300 v. Chr. entdeckt und somit wissenschaftliches Neuland betreten worden. Aus den insgesamt gut 6500 gefundenen Teilstücken konnte geschlossen werden, dass die Statue einen schreitenden König von etwa 10,5 Metern Höhe darstellte.
Der Hauptfund wurde im Garten des Ägyptischen Museums durch den Antikenminister Khaled el-Enany der Öffentlichkeit präsentiert. Zehn Jahre nach dem "Arabischen Frühling" berichtet Dietrich Raue so lebendig wie aktuell, zugleich aber auch vielschichtig vom einzigartigen Heliopolis, das er ein Stück weit dem Vergessen entreißt.
Info: Dietrich Raue: "Reise zum Ursprung der Welt: Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020. 384 S., 96 farbige Abb.; 32 Euro.