Die Mutter und damit das dunkle Geheimnis ihrer Herkunft hat die agile Rechtsanwältin Tara (Sophie Melbinger) stets im Rücken - bis die familiären Traumata schließlich aufbrechen. Foto: Sebastian Bühler
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Überraschung! Wer in Sachen Heidelberger Stückemarkt ganz auf das Gastland Südkorea - und damit auch auf den diktatorischen Bruderstaat Nordkorea - geeicht war, fand sich stattdessen zu Beginn im Iran wieder, also in einem anderen Land auf der "Achse des Bösen", von der einst der frühere US-Präsident George W. Bush sprach. Das ist schon ziemlich lange her, aber eine wirkliche Liberalisierung des Iran lässt immer noch auf sich warten.
Sicher sind jedoch die finsteren Zeiten des Mullah-Staates, und mitten hinein in die Foltergefängnisse des Chomeini-Regimes führt die Heidelberger Uraufführung des Migrantendramas "Kluge Gefühle" der in Teheran geborenen Autorin Maryam Zaree. Das Gewinnerstück des letztjährigen Autorenwettbewerbs hatte im übervollen Zwinger 1 Premiere. Darin gellen die stummen Schreie der vor Jahrzehnten Geschundenen bis in die Gegenwart und gehen selbst noch der nächsten Generation durch Mark und Bein.
Im Zentrum der Inszenierung von Isabel Osthues steht die agile Mittdreißigerin Tara, die in Teheran geboren wurde, jedoch schon früh nach Deutschland kam. Hier legte sie eine steile Karriere hin, denn heute ist sie eine versierte Anwältin für Asylrecht, die gerade einen Afghanen aus Kabul vertritt. Beruflich und rational scheint die durchtrainierte Tara immer alles überperfekt auf dem Schirm zu haben.
Aber der selbstbewusste Auftritt der Anwältin wirkt angestrengt. Und sobald bei Single Tara Emotionen ins Spiel kommen, gerät sie total ins Schleudern. Auch das Verhältnis zu ihrer Mutter dient vor allem dazu, in der Gegenwart auf Erfolgskurs zu bleiben. Dabei verbindet beide ein unausgesprochenes dunkles Geheimnis: Denn Tara kam 1981 in einem iranischen Foltergefängnis zur Welt.
Vor pechschwarzem Hintergrund ist auf der Bühne von Jeremias Böttcher lediglich eine Anhäufung von geometrischen Klötzen zu sehen: Würfel, Quader, Winkelformen. So klar deren Strukturen sind, so schwer begehbar ist die von ihnen gebildete Spielfläche, auf der schon mal etwas wegrutscht oder Menschen komplett einbrechen können. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Auch Tara bricht auf dem dünnen Eis ihres mühsam erarbeiteten Alltags ein und sinkt ab in die Tiefen der familiären Traumata, zu denen auch der Tod des Vaters zählt.
Sophie Melbinger spielt die Anwältin in einer Weise, die an die junge Ulrike Folkerts erinnert: mit maskulinen Zügen, herausfordernd und stets im Vorwärtsgang (Kostüme: Mascha Schubert). Jedoch wirkt Melbinger einen Tick überdrehter. Die zur Schau getragene Härte kann allerdings von einem Moment zum nächsten umschlagen in tiefe Verletzlichkeit und totale Hilflosigkeit, sobald die Frau in ihr hervortritt mit Liebessehnsucht, Kinderwunsch oder auch nur dem Bedürfnis nach Vertrautheit. Tara: "Ich bin zu klug für solche Gefühle." Dafür fehlt ihr jedoch vor allem die sichere familiäre Basis. Klarheit kann Tara nur in der Konfrontation mit den schlimmen Geschehnissen im Iran erlangen.
Beatrix Doderer gibt Taras Mutter Shahla als äußerlich gut funktionierende Frau, die sich dem Lifestyle hierzulande scheinbar vollständig angepasst hat. Aber dann kippt sie doch aus dieser Rolle, sagt nach jahrzehntelangem Schweigen in einem internationalen Verfahren gegen die iranischen Täter aus und berichtet beklemmend davon, wie sie als Schwangere in ein Frauengefängnis kam, in dem Gewalt, Folter und Vergewaltigung an der Tagesordnung waren. Eine spannende Frage und ein weites Feld: Wie konnten Mutter und Kind damals überhaupt zusammenfinden?
Regisseurin Isabel Osthues arrangiert die Aufführung, an der auch die Schauspieler Roland Bayer, Maria Magdalena Wardzinska und Hendrik Richter beteiligt sind, mit schnellen harten Schnitten, entsprechend den Brüchen in Taras Biographie. Dabei werden erst nach und nach die physischen und psychischen Verwundungen freigelegt, bis schließlich der ganze Schrecken vor Augen steht.
Also keine Wohlfühlkost zum Start des 35. Stückemarkts. Vielmehr hetzte da eine oftmals fast atemlose Migrantin durch die Szenerie und führte gleich mitten hinein in die Spannungen der Welt, die das Theaterfestival auch weiterhin durchziehen. Es erscheint heute vielfach als Binsenweisheit, dass die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge ihre Biographien mitbringen. Was das aber im konkreten Einzelfall - und zugleich für Generationen - bedeutet, wurde an diesem Abend messerscharf seziert. Und wenn man dies hochrechnet auf die Schicksale der zahlreichen Zuwanderer, zeichnet sich eine enorme Herausforderung für die deutsche Gesellschaft ab. Allein für Tara aus dem Iran bleibt selbst im geometrisch ordentlichen Deutschland bei der Bewältigung der Vergangenheit kein Stein auf dem anderen. - Starker Applaus.
Info: www.theaterheidelberg.de; Termine: 27. April, 2., 3., 15., 17. Mai.