Von Franz Schneider
Heidelberg. Einst versprach ihr der Vater, sie werde so berühmt werden wie Katherine Mansfield, die neuseeländische Meisterin der Kurzgeschichte. Unerheblich, dass die Tochter auf Hindi schreibt, denn das wird von immerhin 500 Millionen Menschen gesprochen und ist sehr wohl mit einer reichen Literaturszene gesegnet. Sara Rai hat sie durch einige kleine Meisterstücke ergänzt. Soeben sind auf Deutsch einige ihrer Erzählungen erschienen, betitelt "Im Labyrinth", übersetzt und mit Nachwort versehen von Johanna Hahn.
Was nun erlebt der Leser, wenn er es wagt, durch das Labyrinth einer Autorin zu irren, die 1956 im nordindischen Allahabad geboren wurde und auch heute noch dort lebt. Sie ist die Tochter eines Literaturkritikers, die früh zu schreiben begann und ein umfangreiches Werk geschaffen hat. Bei der Lektüre lernt man Menschen kennen, die man nicht vergessen wird. Den stets schwarz gekleideten Shekhar etwa, der plötzlich in orientierungslosem Zustand nach langer Zeit wieder vor einem auf der Straße steht und dessen Persönlichkeit verloren gegangen zu sein scheint. Oder den alte Freund Badri, ergraut und mittellos, aber mit einer verrückten Idee im Kopf, die alles ändern wird.
Sara Rai zeigt sich als Menschenbeobachterin von besonderem Talent. Familienbeziehungen spielen in ihren Erzählungen eine große Rolle, auch die Formen der Gastlichkeit, das Essen, die Kleidung, die Wohnung, selbst das Wetter. Ihre Erzählungen gleichen Miniaturen voller Details, die aber nur dazu dienen, Zustände des Menschseins umso genauer zu beschreiben. Sehr vielstimmig wirkt der Klang ihrer Sprache. Sehr zu loben ist darum auch Johanna Hans Übersetzungsarbeit, die auch im Deutschen Sara Rais Vitalität der Sprache hinüber rettet.
Sara Rai erhielt den diesjährigen Rückert-Preis und liest am 19. Mai bei den Heidelberger Literaturtagen. Es wird, das sei versprochen, eine sehr außergewöhnliche Begegnung werden.
Info: Sara Rai: "Im Labyrinth". Erzählungen. Draupadi-Verlag, Heidelberg 2019, 192 Seiten, 18 Euro.