Die türkischstämmige Autorin Dilek Güngör und der russlanddeutsche Redakteur Viktor Funk im Teledialog. Foto: Screenshot
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Da köchelt noch immer etwas – da ist weiterhin Druck im Kessel. Bei Menschen mit Migrationsgeschichte heute in Deutschland. Darüber sprachen die türkischstämmige Autorin Dilek Güngör und der russlanddeutsche Redakteur Viktor Funk beim Interkulturellen Zentrum Heidelberg per Livestream miteinander. Beide haben Romane über ihr Aufwachsen in zwei Kulturen geschrieben: Dilek Güngör 2019 das Buch "Ich bin Özlem" (Verbrecher Verlag) und Viktor Funk 2017 den Titel "Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich" (Größenwahn Verlag). Und durch den Dialog, eine Kooperation mit dem Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, wehte ein melancholischer Hauch heimatlichen Fremdseins.
Denn diese Mischung der Gefühle ist letztlich unauflösbar, sie stellt vielmehr eine spezifische Identität dar. Und dazu gehören auch elementare Widersprüche. So stellte der 1978 in Kasachstan geborene und heute als Politikredakteur bei der "Frankfurter Rundschau" tätige Viktor Funk zwar zunächst fest: "Es gibt noch einen Kick der Konflikte." Aber schließlich räumte er doch auch ein: "Wir sind jetzt einen Wahnsinnsschritt weiter." Und dieses "ja, aber" zog sich durch den ganzen Abend. Offenbar ist das, was schon lange hierzulande lebende Migranten von der Mehrheitsgesellschaft trennt, keine tiefe Kluft, sondern eher so eine Art Haarriss – man sieht ihn kaum, aber umso mehr nervt er.
Die Unsichtbarkeit des Anderssein scheint oft erwünscht. Durch Anpassung will man nicht auffallen. Diesen Balanceakt beschreibt die 1972 in Schwäbisch Gmünd geborene Autorin Dilek Güngör, die auch als Journalistin für große Zeitungen tätig war, zu Beginn ihres Buchs anschaulich beim Kochen. Vor ihrer deutschen Umgebung gibt sie die Küchen-Virtuosin: "Drei Töpfe gleichzeitig auf dem Herd – und dann noch ein Brot im Ofen". Aber sie tut nur so, als hätte sie "alles im Griff". Tatsächlich ist ihr die traditionelle Frauenrolle der Mutter "am Herd" verhasst. Aber sie will doch die "perfekte Gastgeberin" sein und nach außen die türkische Gastfreundschaft hochhalten.
Überhaupt war die "vorauseilende Anpassung" ein wichtiges Thema. Viktor Funk sprach sogar von den "eher unsichtbaren" drei Millionen Russlanddeutschen in der Bundesrepublik. Dieses Verhalten reicht bis zu den Namen der Kinder, die nicht zu viel Abweichung kundtun sollen. Denn Menschen mit ausländischer Herkunft sehen sich ständig zu Selbsterklärungen aufgefordert. Funk sprach von einem verbreiteten Gefühl des In-der-Schwebe-Seins. Er selbst meint zwar, mittlerweile in Frankfurt angekommen zu sein. Aber besonders wohl fühlt er sich im Osten Europas. Am schönsten ist für ihn jedoch das Reisen, ein Unterwegssein jenseits aller Rechtfertigungen.
Unter den zahlreichen Migranten während Funks Zeiten in Wolfsburg oder Hannover hat er sich stets die Erinnerung an die "schöne Kindheit in der Steppe" bewahrt. Die hat ihm auch geholfen, als er anfangs beim Bäcker das Wort "Stangenbrot" nicht herausbrachte. Und als er in der Jugend alle anderen für "völlig normal" hielt, suchte er seine eigene "Freiheit in der Anpassung".
Aber bei allen Spannungen zwischen den Kulturen sind zunehmende Konvergenzen doch unübersehbar. So meinte Dilek Güngör, dass in ihren Büchern auch "universelle" menschliche Probleme mitschwingen – Leser etwas ganz Ähnliches erlebt haben. Viktor Funk sprach zudem von einer heutigen allgemeinen Orientierungslosigkeit, die "nichts mit Nationalität zu tun hat". Und weiter: "Jeder ist unsicher. Wir alle wollen dazu gehören." Das sei ein elementarer Instinkt.
Am Ende des interkulturellen Dialogs lautete der gemeinsame Befund: "Die Stimmen die Migranten werden lauter", nicht zuletzt durch die sozialen Medien. Diese Menschen halten also nicht nur ihre Töpfe am Kochen, sondern auch ihre ureigenen Interessen. Und dabei gilt es weiterhin, Geschichten vom Farbenreichtum des Lebens zu erzählen.