Von Ingeborg Salomon
Tag für Tag greifen wir in den Kleiderschrank und wählen aus, was wir anziehen. Über die Menschen, die herstellen, was wir tragen, machen wir uns kaum Gedanken. Imke Müller-Hellmann ist ihren Lieblingskleidungsstücken nachgereist. In "Leute machen Kleider" erzählt die 42-Jährige in zehn Kapiteln, wie Slip, Mütze, Jacke, Top, T-Shirt und Schuhe entstanden sind - und sie verschweigt auch nicht, wie schwierig es war, Recherchen in Textilfirmen durchzuführen.
Das liest sich für ihren Lieblingsslip namens Claudia dann so: Der Leser bekommt einen Einblick in den Briefwechsel der Autorin mit der Galeria Kaufhof (wo Müller-Hellmann den Slip gekauft hat) und der Firma Conzelmann in Albstadt (wo das Teil hergestellt wird). Anschließend schildert sie den Besuch beim textiltechnischen Leiter von Conzelmann, Reinald Riede. Der nimmt sich für die wissbegierige Kundin viel Zeit, und nach der Lektüre dieses Kapitels sind fast alle Fragen in Sachen Unterhose beantwortet.
Für die Autorin war das eine der leichteren Übungen, schließlich ist sie nur von Bremen auf die Schwäbische Alb gefahren, umweltbewusst per Zug. Doch dabei bleibt es nicht: Um zu wissen, wie ihre Mütze "Melbu Beanie III" entstanden ist, besucht sie einen Bergausrüster am Bodensee. Dort erfährt sie, dass die Mütze in China hergestellt wird. Was dann auch das Ende dieser Geschichte ist, denn die Firma sieht "keinen Anlass für eine Recherche in Asien", bewundert aber "die Hartnäckigkeit der Autorin", wie es in einem letzten Brief heißt.
Hartnäckig ist Müller-Hellmann in der Tat, sie scheut weder Mühe noch weite Wege, um die Produktionsbedingungen zu erforschen. So lernt sie die Näherin ihrer Fleecejacke in Vietnam kennen, woher auch die Jeans stammt. Sehr ausführlich wird die Fabrik in Bien Hoa, 30 Kilometer östlich von Ho-Chi-Minh-Stadt, beschrieben. In der Fabrikationshalle stehen 17 Reihen mit Nähmaschinen nebeneinander, gearbeitet wird im Akkord, die Schicht dauert von 7.30 bis 16.30 Uhr. Ob die Näherinnen nicht müde werden, fragt die Autorin. Die Antwort lässt tief blicken: "Vietnamese, they never go tired, if you let them work, they work".
Imke Müller-Hellmann schreibt sehr sachlich, sie zitiert viel, sie kommentiert nicht, und sie lässt die Fakten für sich sprechen. Gerade das macht die Lektüre so beklemmend. Wovon träumt eine Wanderarbeiterin in China, die zehn bis zwölf Stunden unter Neonlicht näht? Was erhofft sich ein Textilarbeiter in Bangladesch von der Zukunft? Und was eine Schuhmacherin in Portugal?
Dem Grenzgänger-Programm der Robert-Bosch-Stiftung und dem Literarischen Colloquium Berlin ist es zu verdanken, dass dieses Buch zustande kam. Als Stipendiatin konnte Imke Müller-Hellmann, die als Jobcoach für Menschen mit Behinderung arbeitet, weltweit recherchieren. Das hat sie extrem beharrlich getan, und die 285 Seiten lesen sich spannend. Schade nur, dass die Kleidungsstücke nicht im Bild zu sehen sind. Einige Schwarz-Weiß-Fotos zeigen zwar die Menschen, mit denen die Autorin gesprochen hat, aber der Leser hätte Slip, Fleecejacke und Co. bei der Lektüre doch gerne vor Augen gehabt.
Imke Müller-Hellmann: "Leute machen Kleider". Osburg Verlag, Hamburg, 2017, 285 S., 20 Euro.