Franz Radziwill Gemälde "Streik" aus dem Jahr 1931, ausgeliehen aus dem Westfälischen Landesmuseum Münster. Foto: Milan Chlumsky
Von Milan Chlumsky
Frankfurt. Unzählige Erklärungsversuche gibt es, weshalb die Weimarer Republik in der Diktatur des NS-Staats versank. Die junge Demokratie stand permanent unter Druck und wurde von Extremisten bedrängt. Zugleich blühte aber die Kunst. In Berlin wurde 1918 die Künstlervereinigung Novembergruppe gegründet, einige Wochen später in Dresden die Gruppe 1919 mit Otto Dix an der Spitze. Noch ein paar Wochen später öffnete das Bauhaus in Weimar unter der Leitung von Walter Gropius seine Pforten.
Die vom Ersten Weltkrieg traumatisierte Gesellschaft war nicht imstande, die reibungslose Rückkehr von sechs Millionen Soldaten, 1,5 Millionen Kriegsbeschädigten und 800.000 Kriegsgefangenen zu bewerkstelligen und gleichzeitig hohe Reparationszahlungen zu leisten. Das ökonomische Gerüst der jungen Republik brach zusammen. Die Inflation war die Folge: 1923 kostete ein Laib Brot 10,37 Millionen Mark. Der Zerfall der zivilen Gesellschaft beschleunigte sich, die Arbeitslosenzahlen stiegen täglich, und die Weltwirtschaftskrise 1929 übertraf noch die schlimmsten Erwartungen.
In diesem Klima erlebte die deutsche Kunst einen erstaunlichen Auftrieb. Der Expressionismus hatte ausgedient, die "Brücke" und der "Blauer Reiter" hatten sich aufgelöst. Die Neue Sachlichkeit, so nannte der Direktor der Mannheimer Kunsthalle, Gustav Friedrich Hartlaub, die neue Richtung, war die Reaktion auf die Traumata des Ersten Weltkrieges. Begleitet von der Furcht vor dem Morgen war der Augenblick, für den man lebte und den man mit größtmöglicher Intensität auszukosten hatte, ein beherrschendes Thema in der Kunst. Malerei, Zeichnung und Skulptur waren nun gekennzeichnet vom neuen, schnörkellosen Geist, ohne dabei zu ignorieren, wie hart die Realität war. Hartlaub erkannte einen rechten und einen linken Flügel auch in der Kunst: Der eine konservativ bis zum Klassizismus, der andere grell zeitgenössisch. Die Frankfurter Schirn-Kunsthalle lotet nun mit ihrer neuen Ausstellung die Vielfalt dieser Epoche aus. 62 Künstler - von Dix und Beckmann über Grosz und Hubbuch bis zu Mammen und Radziwill - sind mit 190 Gemälden, Grafiken und Skulpturen vertreten. Dazu kommen historische Filme, Zeitschriften, Plakate, Fotografien und andere Dokumente, die den Blick schärfen: Sie zeigen die ätzende Kritik am Zustand der Gesellschaft. Die eben vergangenen Kriegsereignisse sind längst nicht aufgearbeitet, im Gegenteil - bei Otto Dix und Franz Radziwill erscheinen sie ganz plötzlich, fast unvermittelt.
Vier Bilder des Malers Fritz Radziwill stechen hervor. Seine Biografie ist geprägt von sämtlichen Brüchen des politischen und kulturellen Lebens. Deshalb ist er prototypisch für die Kunst der Weimarer Republik. 1895 in der Nähe von Rodenkirchen in Norddeutschland geboren, durfte er aufgrund seiner hervorragenden Leistungen an der Höheren technischen Staatslehranstalt für Architektur in Bremen studieren. Neben Architekturbildern entstanden erste Stillleben, die ihn in die Künstlerkreise in Fischerhude und Worpswede führten. Drei Jahre diente er während des Ersten Weltkrieges als Sanitäter in Russland, Flandern und Nordfrankreich, 1918 geriet für ein Jahr in englische Gefangenschaft. Wieder zu Hause, schloss er sich der Bremer Künstlervereinigung "Der grüne Regenbogen" an und bezog sein eigenes Atelier. Im Jahr darauf machte er Bekanntschaft mit Schmidt-Rottluff, Heckel, Pechstein, Grosz, Dix und Schlichter. Der Künstlerkarriere schien für Radziwill vorgezeichnet: Es folgten eine enge Freundschaft mit Otto Dix, zahlreiche Ausstellungen und Reisen, 1928 die Goldene Medaille der Stadt Düsseldorf, die ihm dann die Professur an der dortigen Akademie ermöglichte. 1933 trat er der NSDAP bei, was ihn nicht davon schützte, selbst als "entarteter Künstler" die Akademie verlassen zu müssen, nachdem er zuvor den Platz des vertriebenen Paul Klee eingenommen hatte.
Das erste seiner Bilder in der Ausstellung, "Todessturz Karl Buchstätters" (1928) geht auf seine Erinnerung als Student in Bremen zurück, als der Testpilot vor den Augen des 17-Jährigen mit seinem Doppeldecker abstürzte. 16 Jahre lang trug er es in seinem Gedächtnis, bis er es malen konnte. Ähnliches wird sich mit den schrecklichen Erinnerungen an die Flandern-Offensive abspielen, sodass man in dem Bild "Einer von den vielen des XX. Jahrhundert" (1927) das Selbstporträt eines vom Schicksal geplagten Menschen sehen könnte.
Kunst und Literatur werfen einen ungeschminkten Blick auf die Realität mit ihren Kriegswitwen, die zu Prostituierten werden. Mit den Kriegsversehrten, die sich durch die Straßen schleppen. Mit den Arbeitslosen, die den Selbstmord wählen, um nicht betteln zu müssen. Der Gesellschaftskonsens kollabiert, die Fangnetze des Nationalsozialismus werden immer engmaschiger.
Können 190 Bilder verdeutlichen, weshalb vom Glanz der Weimarer Republik nur Elend übrig blieb? Wer sich den "Weimarer Fasching" (1928/29) von Horst Naumann anschaut, kann erahnen, wie es weitergeht: Schon bereiten die Generäle den nächsten Krieg vor, Särge werden angefertigt, Flugzeuge sind zum Formationsflug gestartet. Im Zentrum ein Mann mit dem Hakenkreuz am Helm. Der einst links engagierte Student Naumann, der bei Otto Dix studierte, war gerade 21 Jahre alt, als er das Bild malte. 1934 wurde er verhaftet. Die Ausstellung ist eine Mahnung an alle Europäer.
Info: "Glanz und Elend in der Weimarer Republik. Von Otto Dix bis Jeanne Mammen", Kunsthalle Schirn in Frankfurt, bis 25. Februar 2018, Katalog: 35 Euro.