„Wir freuen uns auf die Landesheimattage 2020“ – so steht es auf einem Schild am Stadteingang von Sinsheim zu lesen. Foto: Tim Kegel
Von Tim Kegel
Sinsheim/Kraichgau. Aus der Traum: Beobachter hatten es so kommen sehen und es für unweigerlich gehalten – just um 11 Uhr am Freitag war es dann offiziell so weit: Die Große Kreisstadt Sinsheim hat die Ausrichtung der baden-württembergischen Landesheimattage 2020 endgültig abgesagt. Angesichts der "rasanten Entwicklung" und der Ausbreitung des Corona-Virus habe man die Entscheidung treffen müssen, sagte Sinsheims Oberbürgermeister Jörg Albrecht.
> Gesundheit und Planungssicherheit: Mit der Entscheidung haben Verwaltung und die eigens im Rathaus gegründete Heimattage-Geschäftsstelle des Stadtmarketings das Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorgezogen. Scheibchenweise waren mit zunehmender Ausbreitung des Virus Veranstaltungen abgesagt worden – darunter auch die erste Landesgroßveranstaltung im Mai, der Baden-Württemberg-Tag. 6000 kostenlose Eintrittskarten für ein Konzert mit Sänger Laith Al-Deen und der Gruppe "Glasperlenspiel" waren augegeben worden, 28 Museen, Tourismusbetriebe und Vereine hatten eine lange Nacht der Heimat organisiert, deren Absage Ende März den Anfang vom Ende markierte. Bis zuletzt blickte noch alles auf die Landesfesttage Anfang September, für deren großen Umzug mit Hunderten Trachten-Gruppen aus dem ganzen Bundesland auch eine "Kraichgauer Tracht" gefunden wurde. Zwar gilt das Großveranstaltungsverbot zunächst bis zum 31. August, dennoch könnten die Planungen für das verbleibende Jahr unter den geltenden Vorzeichen nicht umgesetzt werden. Die Einschränkungen machten es unmöglich, "dem Niveau der Heimattage Baden-Württemberg gerecht zu werden", erklärte Sinsheims Oberbürgermeister Jörg Albrecht. Das gesamte Heimattage-Jahr sei damit abgesagt. Die Stadt Sinsheim leiste so einen Beitrag für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Ansteckungswege mit dem Corona-Virus müssten "so weit wie möglich gekappt werden".
> "Esprit, Leidenschaft, Herzblut": Die Absage sei in enger Abstimmung mit dem Staatsministerium beschlossen worden. Dort sicherte Regierungspräsidentin Sylvia M. Felder, die auch Vorsitzende des Landesausschusses für Heimatpflege ist, den Veranstaltungsmachern "allergrößten Respekt für die ehrenhafte Entscheidung" zu, die von so langer Hand organisierten Heimattage aufgrund der Corona-Krise abzusagen. Felder sprach von einem "bitteren Aus". Die Vorbereitung sei über lange Jahre "mit Esprit, Leidenschaft und Herzblut" und einem "außergewöhnlichen Engagement" vorangetrieben worden.
> Jubiläum nachfeiern: Trotzdem gibt es im Rathaus Bestrebungen, zumindest die eine oder andere Veranstaltung ins kommende Jahr zu retten, sagt Albrecht: Zwar sei eine Verschiebung des offiziellen Landesfests nicht möglich: Niemand wisse, wie lange die Corona-Einschränkungen andauern werden. Eine zweiter Anlauf sei auch gegenüber den nachfolgenden Heimattage-Städten, die sich ebenfalls seit dem Zuschlag im Jahr 2015 vorbereiten würden, "nicht fair". Zwei größere Veranstaltungen – ein Mundartfestival mit Comedian Bülent Ceylan und das Stadtjubiläum – sollen im Mai und Juli 2021 nachgefeiert werden. Zeitgleich zu den Heimattagen wollte man in Sinsheim das 1250. Stadtjubiläum feiern.
> Weitreichende Folgen: Das Heimattage-Aus hat eine große psychologische, historische und auch finanzielle Tragweite. Monatelang hatten beispielsweise Musikvereine aus den Sinsheimer Stadtteilen für ein gemeinsames Konzert mit 150 Musikern geprobt, das eigentlich im März stattfinden sollte; die Landfrauen wollten Gästen einen kulinarischen Abend bieten; Projektteams hatten mit der Heidelberger-Brauerei ein Heimattage-Bier, die Fleischer-Innung hatte eine Heimattage-Wurst kreiert. 350 Veranstaltungen, rund 1000 Veranstaltungs-Tage und etliche Hundert ehrenamtliche Helfer wären es gewesen.
> Sponsoren bei der Stange: Als Budget des Festjahrs waren rund eine Million Euro angesetzt, davon 650.000 Euro zugesagter Sponsorengelder – "eine Rekordsumme", wie es häufiger hieß. Stand gestern waren 350.000 Euro ausgegeben, überwiegend für Marketingmaßnahmen und Werbematerial. Versprochen hatte man sich "Kaufkraft- und Mitnahme-Effekte in allen Bereichen, vom Einzelhändler über die Hotels bis zum Taxi-Anbieter". Drei Vollbelegungen hätte beispielsweise das große Hotel Sinsheim in diesem Jahr verbuchen können, auch weil einige namhafte Kongresse in der Dr.-Sieber-Halle stattfinden sollten, darunter die Tagung des Landesvorstands des Gemeindetags, ein Treffen der Trachten-Jugend sowie der Deutsche Fleischertag. Auch ging man davon aus, dass jeder der geschätzten 350.000 Besucher übers Jahr "deutlich mehr als zehn Euro in Sinsheim gelassen hätte", sagte Albrecht. "Man darf nicht daran denken, wie gut Sinsheim das alles getan hätte." Immerhin hätten viele der Sponsoren anhaltende Solidarität signalisiert, einige blieben sogar "in vollem Umfang dabei", sagte Albrecht. Die Heimattage seien durch "hervorragende Partnerschaften erst möglich gemacht" worden, die Rückmeldungen, die ihn gestern erreichten, seien "oftmals sehr rührend" gewesen.
> Geschäftsstelle wird aufgelöst:"Ein enormer Aufwand" steckt auch in der vertraglichen und logistischen Rückabwicklung des Landefests, die "bis weit ins Jahr 2021" dauern werde. "Eine bittere Arbeit." Es gehe auch um Auflösungen von Verträgen, "bei denen verständlicherweise nicht jeder ,Hosianna‘ ruft, da auch Existenzen dahinter stehen", wie Albrecht es nennt. Die Heimattage-Geschäftsstelle wird aufgelöst, die Stellen werden zurückgebaut; deren drei Kräfte mit Leiterin Ines Kern werden im Rahmen der natürlichen Fluktuation in anderen Verwaltungsbereichen eingesetzt, etwa im Kultur- und Tourismusgebiet. Die Absage habe im Rathaus "zu Tränen geführt".
> Glück im Unglück sieht Albrecht darin, dass die Heimattage in Sinsheim schon einige Höhepunkte hatten: Noch bis 7. März hatten rund 50 Veranstaltungen stattgefunden, darunter die Einweihung der neuen Dr.-Sieber-Halle, ein Vortrag mit Margot Käßmann und ein Kochevent mit Spitzenkoch Harald Wohlfahrt und Wein-Sommelière Natalie Lumpp im Technik-Museum. Positive Aspekte seien eine "beachtliche Unterstützung der ansässigen Wirtschaft und des Landes" sowie spürbarer Zusammenhalt und gesellschaftliches Engagement, "schon vor 2020". Bürger hätten sich "intensiv mit ihrer Heimat auseinandergesetzt".
> Ein "Beschleuniger": Die Heimattage hätten sich ferner "als Beschleuniger" der großen Stadtentwicklungs-Prozesse der vergangenen Jahre erwiesen, von der Entwicklung der Gebiete Ilvesbach über die Stadthallen-Sanierung bis hin zum Drei-Könige-Areal und der Schaffung einer Tourist-Info.
> Eine Erfahrung reicher: Sinsheim wird außerdem an den Austragungsorten der künftigen Landesheimattage Radolfzell und Offenburg präsent sein. Man habe schließlich "einiges an Expertise im Krisenmanagement generieren können", sagte Albrecht. Wie dies aussehen könnte? "Ich hätte künftig einen Plan A, Plan B und Plan C."