Mit Glück entging Heidelberg der Zerstörung

Heute vor 70 Jahren besetzten die amerikanischen Truppen die Stadt - Parlamentäre versuchten vorher, mit den Siegern zu verhandeln

29.03.2015 UPDATE: 30.03.2015 17:00 Uhr 2 Minuten, 46 Sekunden

Über den Marktplatz führten US-Soldaten deutsche Kriegsgefangene ab. Aus vielen Fenstern hingen weiße Laken. Foto: Stadtarchiv

Von Oliver Richter

"Die Amerikaner sind da", schrieb der spätere Bundespräsident Theodor Heuss am Karfreitagmorgen des Jahres 1945 in sein Tagebuch, "am Kapellenweg überzeuge ich mich: Es ist nicht bloß ein Gerücht." "Sie sind da", ertönte es an diesem 30. März auch in vielen Häusern und Wohnungen in Handschuhsheim und Neuenheim. Langsam, nach allen Seiten sichernd, arbeiteten sich die Soldaten der 63. US-Infanteriedivision von Dossenheim kommend durch die Rottmannstraße, die Handschuhsheimer Landstraße, die Brückenstraße zum Neuenheimer Neckarufer vor, das sie gegen 7.30 Uhr erreichten.

Alle Neckarübergänge waren gesprengt worden, die Alte Brücke und die Friedrichsbrücke (heute Theodor-Heuss-Brücke) erst vor wenigen Stunden. Noch am Gründonnerstag war unklar, ob Heidelberg verteidigt wird oder nicht. Die Gauleitung hatte an diesem Tag noch immer die Absicht, die Lazarettstadt zur "Frontstadt" zu machen, "die bis zur letzten Frau, bis zum letzten Kind, bis zum letzten Stein" zu verteidigen sei. Dramatische Stunden für die altehrwürdige Universitätsstadt, die von Zerstörungen bisher weitestgehend verschon geblieben war.

"Die Donnerstagszeitung", schreibt Heuss in seinem Tagebuch, "beginnt mit: "Heidelberg ist Frontstadt … Kampffeld Mannheim-Bergstraße." Der Heidelberger Kampfkommandant hatte auf der Molkenkur Quartier bezogen. In Rohrbach und in Gaiberg lagen Wehrmachtsstäbe, allerdings ohne viel Truppe. Mit ein paar abgekämpften Soldaten, Hitlerjungen und alten Männern mit Panzerfäusten sollte nach den verlustreichen Kämpfen westlich des Rheins am Neckar eine neue Verteidigungslinie aufgebaut werden. Propaganda und Terror sollten fehlende Kampfkraft wettmachen. Erst vor wenigen Tagen hatte ein sogenanntes fliegendes Standgericht zwei junge Soldaten aufgegriffen, erschossen und zur Abschreckung aufgehängt. Allein der geplante Abtransport der rund 8000 Verwundeten, die in den Krankenhäusern und Reserve-Lazaretten in und um Heidelberg lagen, war - zum Glück für die Stadt - aufgrund mangelnder Transportkapazität nicht zu leisten gewesen.

In dieser kritischen Lage hatte die militärische und die zivile Führung der Stadt alles daran gesetzt, eine Zerstörung unter allen Umständen zu verhindern. Ein sehr gefährliches Unterfangen, denn die kampflose Übergabe einer Stadt galt als "Verrat" und wurde mit dem Tode bestraft. Heidelbergs Schicksal hing an diesem 29. März am seidenen Faden, besser gesagt, an einer intakten Telefonleitung des Wasserwerks Rheinau, über die die Entsendung von Parlamentären vereinbart worden war. Oberstarzt Dr. Nießen, Oberstabsarzt Dr. Dahmann, Oberleutnant Dr. Brüggemann, Professor Achelis (Dekan der medizinischen Fakultät), ein Dolmetscher und Sanitätsunteroffizier Grimm als Fahrer hatten sich am Abend auf den Weg nach Mannheim-Käfertal gemacht, um mit den amerikanischen Generälen William F. Dean und William A. Beiderlinden, Herr über 288 Geschütze, Übergabeverhandlungen zu führen. Die Gespräche waren sehr dramatisch verlaufen, hatten aber, gepaart mit General Beiderlindens Liebe zu Heidelberg - sie gründete sich auf Wilhelm Meyer-Försters Schauspiel "Alt-Heidelberg" - im Ergebnis zur Rettung der Stadt geführt.

Auch mutige Heidelberger, wie Bäckermeister Steinbrenner, Metzgermeister Koch oder die drei 16-jährigen Mädchen Anni, Margret und Ilse, hatten ihren Teil beigetragen. Ihrem beherzten Eingreifen war es zu verdanken, dass die Delegation trotz der gesprengten Brücken noch rechtzeitig auf die Altstadtseite gelangte, um das Verhandlungsergebnis mitzuteilen. Kurz nach 3 Uhr morgens, wenige Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner, hatte die 16-jährige Anni Tham die Parlamentäre in einem kleinen Faltboot trotz sporadischen Artilleriebeschusses sicher über den Neckar gepaddelt. Viereinhalb Stunden später standen die Vorausabteilungen der 63. US-Infanteriedivision am Neuenheimer Neckarufer. "Wir fühlten uns … wie Helden. Kein Schuss war gefallen", notierte der 24-jährige Corporal John Graves in sein Tagebuch. Während die Soldaten in Neuenheim den Flussübergang vorbereiteten, schoben sich im Süden die Einheiten der 10. US-Panzerdivision langsam an die Stadt heran. Im Osten standen Panzer der 12. US-Panzerdivision bei Hirschhorn.

Noch einmal spitzte sich die Lage dramatisch zu. Die US-Truppen in Neuenheim wurden von deutscher Artillerie beschossen, fanatische Mitglieder der Hitler-Jugend eröffneten aus dem Marstallhof heraus das Feuer, und fliehende deutsche Soldaten schossen vereinzelt von den Hängen des Königstuhls in die Stadt hinein. Am Bergfriedhof kam es zu Rückzugsgefechten mit versprengten SS-Angehörigen. Bange Stunden für die Bewohner der Stadt. Der Zurückhaltung General Beiderlindens war es zu verdanken, dass es zu keinen massiven Gegenschlägen kam. Gegen Mittag rückten die Amerikaner dann in die Altstadt vor, einige munter plaudernd und lachend, fast wie im Manöver. Der Krieg war in Heidelberg vorüber. "Wir waren im Paradies. Heidelberg war die erste unzerstörte Stadt, in die wir kamen. Und was war das für eine schöne Stadt", sagte John Graves 50 Jahre später in einem Interview.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.