Debatte im Landtag um "SOS-Programm" für Kitas (Update)
In Kitas fehlen weiterhin in drastischem Ausmaß Fachkräfte. Die Pandemie hat die Lage noch verschärft, und die Prognosen fallen düster aus. Die SPD will den Landtag nutzen, um über weitere Schritte zu diskutieren.

Stuttgart. (dpa/lsw) Angesichts des großen Fachkräftemangels in den Kindertagesstätten im Südwesten hat die Opposition im Landtag die grün-schwarze Regierung zum schnellen Handeln aufgefordert. SPD, FDP und AfD kritisierten, Familien und Kinder funkten schon seit Jahren SOS. "Dieser Fachkräftemangel ist nicht vom Himmel gefallen", sagte der SPD-Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei am Donnerstag in Stuttgart. "Man muss bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen." Es sei nicht hinnehmbar, dass ein Großteil der Kitas die Aufsichtspflicht nicht mehr durchgehend gewährleisten könne. Erzieherinnen trauten sich teilweise nicht mehr, auf die Toilette zu gehen, beklagte der FDP-Abgeordnete Dennis Birnstock.
Nach einer Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) hat fast jede Krippe und jeder Kindergarten im Südwesten in den vergangenen Monaten deutlich zu wenig Personal einsetzen können. Bei etwa jeder fünften Kita war der Mangel nach einer neuen Studie bisweilen sogar gravierend. Der Staatssekretär im Kultusministerium, Volker Schebesta (CDU), sagte, die Lage sei sehr stark durch die Corona-Krise geprägt, in der auch Krippen und Kindergärten teilweise geschlossen bleiben mussten. Man habe in den vergangenen Jahren "unglaublich viel Geld" in die frühkindliche Bildung investiert. Der CDU-Politiker räumte aber zum Fachkräftemangel ein: "Da besteht weiter Handlungsbedarf." Die Grünen-Abgeordnete Dorothea Wehinger sagte: "Die Landesregierung kann sich keine neuen Fachkräfte backen."
Die CDU-Bildungsexpertin Christiane Staab hielt der SPD "Alarmismus" vor. Es sei natürlich, dass die Kitas in der Corona-Zeit unterbesetzt gewesen seien, da auch Erzieherinnen und Erzieher in Quarantäne mussten. Man dürfe nicht so tun, als sei die Arbeit in einer Kita eine Strafe und keine Bereicherung. "Das führt sicher nicht dazu, die Attraktivität dieses Berufs zu steigern." Die CDU wolle zusätzliches Geld lieber in mehr Leitungszeit für Kita-Leiterinnen einsetzen und nicht dafür, die Elternbeiträge zu streichen, wie es die SPD wolle. An die Adresse der Erzieherinnen und Erzieher sagte sie, sie sollten sich bei Problemen lieber an das Landesjugendamt wenden und nicht in einer Umfrage darüber reden, ob nach ihrem Gefühl zu wenig Personal da sei.
Die SPD fordert unter anderem ein Sofortrückkehrprogramm und einen Aufstockungsbonus bei Teilzeit. Zudem müsse die vertragliche Leitungszeit an den tatsächlichen Bedarf angepasst werden. "Aufgaben der Personalmanagements, der pädagogischen Leitung oder der Organisationsentwicklung dürfen nicht zu Einschnitten in der Betreuung der Kinder führen", fordert die Partei weiter. Notwendig sei zudem eine Kita-Konferenz, bei der "alle Akteurinnen und Akteure der frühkindlichen Bildung" versuchten, die Betreuungsengpässe zu entschärfen.
Nach der bundesweiten Online-Umfrage des VBE - mit über 2200 Kita-Leitungen aus Baden-Württemberg - mussten 88 Prozent der Kitas in den vergangenen zwölf Monaten zum Teil mit erheblich weniger Personal auskommen, als sie für ihre Aufsichtspflicht benötigen. Rund 18 Prozent der Kita-Leitungen berichteten, dass dies in 40 Prozent der Zeit der Fall war. Überstunden und unsichere Vorgaben in der Corona-Pandemie hätten die Belastung noch gesteigert.
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Für Schlagzeilen hatte auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung gesorgt. Demnach wird es in Baden-Württemberg trotz eines deutlichen Personalausbaus in den Kitas schwerfallen, ausreichend Erzieherinnen und Erzieher für die starke Nachfrage in der Kinderbetreuung einzustellen. Bis zum Jahr 2030 müssten die bestehenden Ausbildungskapazitäten fast verdoppelt werden, um den Bedarf kindgerecht zu erfüllen und Kitas auch weiter mit dem heutigen Personalschlüssel auszustatten. Das ist trotz vergleichsweiser guter Zahlen nicht zu schaffen, wie die Analyse deutlich macht, die die Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh vorgelegt hat.
In Baden-Württemberg werden nach Angaben des Statistischen Landesamts rund 454 000 Kinder in rund 9300 Einrichtungen betreut. Zwei Drittel der betreuten Kinder waren im vergangenen Jahr im klassischen Kindergartenalter von drei bis unter sechs Jahren. Die Zahl der Beschäftigten lag im März 2020 bei etwa 112 500, davon arbeiteten rund 100 000 als pädagogisches Personal.
Update: Donnerstag, 21. Oktober 2021, 12.35 Uhr
Warum ein unbeschwerter Kita-Alltag schier unmöglich ist
Von Roland Muschel, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Als Vater kann sich Gerhard Brand von seiner Tochter den Alltag als Erzieherin schildern lassen: Sie absolviert gerade eine praxisintegrierte Ausbildung. Als Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) hat Brand aber auch einen guten Gesamtüberblick über die Situation an den 9300 baden-württembergischen Kindergärten und Krippen. Die ist laut einer aktuellen, vom VBE in Auftrag gegebenen Umfrage unter 2200 Kita-Leitungen im Land geprägt von Personalproblemen und ständig wechselnden Corona-Vorschriften. In Kombination, sagte Brand bei der Vorstellung der Ergebnisse, mache das einen unbeschwerten Kita-Alltag "schier unmöglich". Die Folge: "Die Nerven liegen blank."
Das größte Problem ist demnach der Mangel an qualifizierten Fachkräften. Neun von zehn Kita-Leitungen gaben an, dass sie in den vergangenen zwölf Monaten zumindest zeitweise so schlecht besetzt waren, dass sie die Aufsichtspflicht nicht mehr garantieren konnten. Knapp jede fünfte Kita konnte demnach in über 40 Prozent der Zeit die gesetzlichen Betreuungsvorgaben nicht einhalten.
Bei den Kleinkindern unter drei Jahren sei landesweit eigentlich eine Aufstockung des Personals um 25 Prozent notwendig, bei den Kindern über drei Jahren um 20 Prozent, rechnete Brand hoch. Der eklatante Mangel an Fachkräften führe in der Praxis dazu, dass Personal eingestellt werde, dass noch vor wenigen Jahren "wegen mangelnder Passgenauigkeit nicht eingestellt worden wäre".
Die tatsächliche Fachkräfte-Kind-Relation weicht laut der Umfrage in den meisten Fällen von der wissenschaftlichen Empfehlung ab, wonach ein Erzieher drei Unter-Dreijährige oder 7,5 Über-Dreijährige betreuen soll. Die Kita-Leitungen gaben an, dass bei den Kleinsten in jeder vierten Kita sechs oder mehr Kinder auf eine Fachkraft kommen, bei den Drei- bis Sechsjährigen muss in knapp 40 Prozent der Kitas eine Fachkraft zwölf oder mehr Kinder betreuen. Die hohe Arbeitsbelastung führe wiederum zu einem Anstieg der Krankschreibungen, wie 87 Prozent der Befragten angaben.
Die Liste der VBE-Forderungen ist daher lang, ganz oben steht der Ruf nach "Sofortmaßnahmen" zur Beseitigung des Personalmangels. Brand mahnte zudem eine landesweite Fachkräfteoffensive, Erleichterungen für die Arbeit der Kita-Leitungen, eine bessere Bezahlung aller Erzieherinnen, die Einführung einer grundsätzlich vergüteten Ausbildung an – und "nachvollziehbare" Corona-Vorgaben.
Unabhängig von der Umfrage verlangten auch die Landeselternvertretung baden-württembergischer Kindertageseinrichtungen und der Deutsche Kitaverband mehr Engagement im Kampf gegen den Fachkräftemangel und eine Stärkung der frühkindlichen Betreuung und Bildung an. In einem gemeinsamen Positionspapier fordern sie etwa dazu auf, mehr auf multiprofessionelle Teams zu setzen und für alle Berufsgruppen "motivierende" finanzielle und Karriere-Anreize zu schaffen. Um den weiteren Ausbau von Kita-Plätzen zu stemmen, drängen sie Land und Bund, mehr Geld in die Hand zu nehmen.
Kultus-Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) sagte, den Personalbedarfs gehe man bereits "mit Nachdruck" und gezielten Investitionen an. So habe man seit 2008/2009 die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die eine Erzieherausbildung an einer Fachschule für Pädagogik beginnen, fast verdoppeln können.
Eine gute Nachricht hat sogar der VBE-Landeschef aus der Umfrage herausgefiltert: Trotz aller beklagten Widrigkeiten geben 86 Prozent der Kita-Leitungen an, ihren Job gerne auszuüben. Das seien, sagte Brand, eben "Überzeugungstäter".



