Auf dem sagenhaften Nibelungensteig
Der 130 Kilometer lange Weg führt von Zwingenberg an der Bergstraße bis nach Freudenberg am Main.

Von Manfred Ofer
Der Odenwald. Schon sein Name übt einen Zauber aus. So wie die Sagen, die sich um ihn ranken. Die bekannteste ist das Nibelungenlied. Der große Verrat, der in dem Heldenepos besungen wird, soll sich unter seinem grünen Dach abgespielt haben. Mitten durch dieses Naturparadies schlängelt sich wie der Lindwurm aus der mittelalterlichen Story der Nibelungensteig. Und gerade in diesen Tagen, da sich immer öfter mal Corona-Schatten auf die Seele legen, bieten sich seine Wanderpfade mehr denn je als kleine "Fluchten".
"Pass auf dich auf!" ruft mir meine Bekannte im frühen Morgenlicht auf der Rheinbrücke hinterher, als ich mich in Richtung Hessen verabschiede. Auf der anderen Seite entdecke ich nach ein paar Schritten die erste Wegmarkierung mit dem roten "N" auf weißem Grund. Noch wandere ich übrigens nicht auf dem Nibelungensteig, sondern auf einem seiner Zubringer: Die Nibelungen-Siegfried-Straße, die sich in ein paar Kilometern in Lorsch gabeln wird. Die Klosterstadt hat mit der karolingischen Königshalle im historischen Ortskern ein echtes Weltkulturerbe zu bieten.
Das Nibelungenlied wurde übrigens 2009 zum Weltdokumentenerbe erklärt. Auf meinem Weg werden mir seine Helden noch öfter begegnen. Der Star des Thrillers, den ein unbekannter Verfasser um das Jahr 1200 auf eine Kuhhaut schrieb, wäre von Anfang an besser daheim geblieben, anstatt die Herzen der stolzesten Frauen zu brechen: Siegfried, der Drachentöter, der von Hagen im Auftrag der von ihm geschmähten Brünhild gemeuchelt wird, der wiederum von Siegfrieds Witwe Kriemhild erschlagen wird, die beim wagnerianischen Finale selbst in ein Schwert fällt. Großes Popcornkino.
Im 19. Jahrhundert wurde die Suche nach dem Tatort des Meuchelmordes, der das Blutbad ausgelöst hat, zu einer ernsten Angelegenheit. Nicht weniger als acht Städte und Gemeinden erheben bis heute den Anspruch, dass der sagenhafte Mist auf ihrem Acker gewachsen ist. Einen davon will ich finden. In der Zwischenzeit kreuzen immer mal wieder zwei Archetypen des Wanderers meinen Weg: Adrenalinjunkies und Genießer. Man kann die 130 Kilometer und mehr als 4000 Höhenmeter durchaus in 48 Stunden schaffen, oder man wandert sie gemütlich in sieben bis acht Tagen. Letzteres ist eher mein Fall.
Im Grunde geht das aber auch nicht anders, denn wegen der Corona-Lage haben alle Hotels und Restaurants entlang der Route geschlossen. Darum sind überschaubare Tagestouren zurzeit das Höchste der Gefühle. Immerhin, das Wetter spielt mit. Auf dem Weg nach Zwingenberg, wo der klassische Einstieg in den Nibelungensteig erfolgt, trübt kein Wölkchen den blauen Himmel. Abstand halten ist auch kein Problem. Die Wanderpfade lassen das zu, und die meisten Orte, durch die man kommt, sind ohnehin so verwaist wie bei "The Walking Dead".
Der erste schweißtreibende Anstieg auf der Route führt mich auf den Melibokus, der mit seinen 517 Metern der höchste Gipfel an der Bergstraße ist. Der Weg hinauf zum Aussichtspunkt führt durch einen stattlichen Buchenwald. Oben angelangt, wird man bei gutem Wetter mit einem fabelhaften Blick auf die Oberrheinische Tiefebene belohnt. Von hier aus wandert man weiter bis nach Reichenbach, an dessen bewaldeten Hängen eine Lawine aus malerischem Granit abgeht. Das Felsenmeer ist ein beliebtes Kletterparadies. An sonnigen Tagen tobt hier das Leben, doch zurzeit kann man sich die Mühe sparen. Die Etappe endet vor einem rot-weißen Absperrband.
Am nächsten Morgen folge ich der Route durch einen würzig duftenden Wald in Richtung Lindenfels. Nach einem herzhaften Abstieg gelangt man in das kleine Schlierbach, das eine große Überraschung zu bieten hat. Auf dem Friedhof bei der evangelischen Kirche fallen mir schlichte weiße Holzbretter auf: "Stickelgräber", die nur mit einem kleinen Dach geschmückt sind. Eine Tafel an der nahen Bushaltestelle gibt Auskunft: Calvinisten, die nach dem Dreißigjährigen Krieg aus der Schweiz in die Gegend eingewandert sind, haben die Tradition wohl mitgebracht.
In Lindenfels mit seinen mittelalterlichen Gassen gesellt sich eine gute Freundin zu mir, weil wir gemeinsam zum Siegfriedbrunnen bei Grasellenbach wandern möchten. Der ist angeblich der einzig Wahre unter den wahren Echten. Vom Brunnen auf dem verwaisten Marktplatz folgen wir zuerst dem Rundweg entlang der alten Wehrmauer durch das Fürther Tor mit seinen "Spottköpfen". Die steinernen Grimassen sollten einst angreifende Feinde verhöhnen. Die romantische Burgruine auf dem Hausberg über unseren Köpfen hat etwas von einem pittoresken Postkartenstich.Von der Mauerkrone genießt man den Panoramablick auf das Weschnitztal, das im warmen Licht der Frühlingssonne vor uns liegt. Blumenteppiche auf tanzenden Hügelwellen, ausgedehnte Wälder und idyllische Häuser mit roten Dächern soweit das Auge reicht. Achtsam wandern wir weiter, wobei die Zeit wie im Flug vergeht. Beinahe hätte ich das Schild übersehen, das auf unser Ziel verweist.
Ein schattiger Pfad führt durch das letzte Stückchen Märchenwald, in dem knorrige Bäume, Farne und moosüberwachsene Felsen unsere Blicke auf sich ziehen. Hier und da glotzt ein Pilz zwischen dem Geäst zurück. In der Ferne klopft ein Specht. Es würde mich nicht wundern, wenn sich zwischen den Blättern Feen und Trolle verbergen würden. Der Siegfriedbrunnen ist hingegen schnell gefunden. Das Gluckern der Quelle mischt sich mit dem sanften Rauschen der Baumkronen. In der Nähe steht ein verwittertes Kreuz. Hier also soll der kühne Recke sein Ende gefunden haben. Und hier endet auch die dritte Etappe auf dem Weg.
Geht man den Trampelpfad vom vermeintlichen Tatort der Nibelungensage weiter, gelangt man, an einem beeindruckenden Hochmoor vorbei, zum kleinen Flecken Hüttenthal mit seiner berühmten Molkerei. Nicht weit entfernt liegt der Marbach-Stausee. Nach dem Abstecher in die Highlands mutet das Flair hier ein wenig schwedisch an, was mit dem schilfbewachsenen Ufer und einem Bootshaus zu tun hat, das sich bei näherer Betrachtung als stilles Örtchen für Badegäste herausstellt. Die Liegewiese ist verwaist. Nur auf einem Steg sitzt ein Pärchen und schmachtet die Abendröte an.
Drei Tage und zwei Landesgrenzen später steht die letzte Etappe vom bayrischen Miltenberg in das knapp dreizehn Kilometer entfernte Freudenberg an. So eine Erfahrung mache ich ungern allein, also ist ein Kumpel dabei. Die ersten paar Kilometer geht’s noch gemütlich am Mainufer entlang. Im nahen Bürgstadt ist ein Besuch der kleinen Martinskapelle aus dem zehnten Jahrhundert wegen der schönen Wand- und Deckenmalereien zu empfehlen. Den Schlüssel dafür gibt’s in der Gärtnerei ums Eck.
Anschließend geht es – am prachtvollen Panorama des Maintals vorbei – den bewaldeten Hausberg hinauf. Kurz vor dem Gipfelkreuz wird es noch einmal mystisch. Mitten im verwunschenen Geflecht steht man plötzlich vor einem Tor aus Sandsteinen, das zu einer gewaltigen Ringwallanlage gehört. Eine von vielen Hinterlassenschaften der Kelten, die vor 3000 Jahren hier siedelten. Wenig ist von diesem Volk bekannt. Vielleicht ist das ja ein Grund dafür, weshalb uns ihre Kultur bis heute so faszinierend erscheint. Nach diesem Ausflug in Merlins Reich, steht uns ein letzter Abstieg bevor.
Vorbei an einer Burgruine, geht es eine steile Treppe in das Zentrum von Freudenberg mit seinen hübschen Fachwerkhäusern immerzu bergab. Auf der Mainbrücke heißt uns der germanische Göttervater Wodan willkommen. Eine von vierzehn Skulpturen des Künstlers Jens Nettlich, die dem Wanderer auf der Ferienstraße die Nibelungensage und ihre Figuren erklären. Es ist geschafft. Und wir sind uns schnell einig: Im Sommer wollen wir diesen Weg noch einmal gehen. Dann aber mit Übernachtungen und ohne fahrbaren Untersatz. Und hoffentlich ohne rot-weißes Flatterband.
Info: unter www.nibelungenland.net.