Ziegelhäuser Paar rettete Mannheimer Familie vor der Deportation
Ihr Enkel sieht sie nicht als Helden - In Israel wurden sie posthum geehrt

Von Philipp Neumayr
Heidelberg. An dem Tag, als man sie zu einer "Gerechten unter den Völkern" ernennt, ist Frieda Müller neun Jahre tot. Sie versteckte kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine jüdische Familie unter dem Dach ihres kleinen Hauses in Ziegelhausen. Sie und ihr Mann Mathias riskierten das eigene Leben, um das Leben anderer zu retten.
Denkt Egon Müller an seine Großeltern Frieda und Mathias, dann denkt er nicht an Helden. "Das waren einfachste Leute, sehr warmherzig und christlich", erzählt der 67-Jährige, der heute in Hirschberg lebt. Seine Großmutter Frieda arbeitete als Wäscherin, wie viele andere damals auch. "Ziegelhausen war ein Waschdorf. Es gab weiches Wasser und viele steile Hänge, um die Wäsche zu bleichen." Frieda Müller hatte verschiedene Kunden. Sie holte die Wäsche ab und fuhr sie später wieder aus.
Zu diesen Kunden gehörte jahrelang auch das Ehepaar Herzberg. Karl Herzberg war Jude, seine Frau im Wortgebrauch der Nazis eine "Arierin". Gemeinsam führten sie ein Textilgeschäft im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt-West.

Die Familie war Mitglied der jüdischen Gemeinde, ihre Kinder Alexander, Ilse und Doris erzogen sie nach jüdischem Glauben. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde ihre Wohnung von Männern der "Sturmabteilung" verwüstet. Fortan wohnten die Herzbergs in einer Ruine, unter "unsäglichen Bedingungen", wie Norbert Giovannini in seinem Buch "Stille Helfer" schreibt.
Auch interessant
Im Februar 1945 erreichte Karl Herzberg und seine beiden Töchter Ilse und Doris – Sohn Alexander war 1938 nach England emigriert – ein Deportationsbescheid für den Abtransport nach Theresienstadt. Ein ehemaliger Geschäftspartner, Wilhelm Burger, vermittelte der Familie zunächst eine Unterkunft im Stadtteil Schönau.
Doch die fallenden Bomben und die Lungenentzündung von Tochter Doris machten einen Verbleib in Mannheim unmöglich. Burger kam auf die Idee, Frieda Müller, die frühere Waschfrau der Herzbergs, um Hilfe zu bitten. Kurze Zeit später zogen die Herzbergs in das kleine Haus der Müllers im Ziegelhäuser Rainweg.

In einer Kammer im Obergeschoss des Hauses, wenige Quadratmeter groß, wurde behelfsmäßig ein Bett aufgestellt, dazu ein paar Matratzen auf dem Fußboden, ein Eimer für die Notdurft in der Ecke. "Die Herzbergs mussten sich die meiste Zeit ruhig verhalten", erzählt Egon Müller. Denn nur wenige Meter entfernt, im Erdgeschoss des Hauses, wohnten zeitgleich Mitglieder der "Organisation Todt", einer paramilitärischen Bautruppe der Nazis.
Erst wenn die Männer tagsüber das Haus verließen oder schliefen, konnten die Herzbergs sich ein wenig bewegen. Wenn keine Gefahr drohte, brachten Frieda und Mathias den Herzbergs etwas zu essen. Von den wenigen Lebensmitteln, die alle hatten, sei immer noch etwas abgezwackt worden, so Müller.
"Ich denke, sie haben nicht nachgedacht. Hätten sie darüber nachgedacht, hätten sie es vielleicht nicht gemacht", sagt Egon Müller, wenn er heute, 75 Jahre danach, über diese Geschichte seiner Großeltern spricht. Er selbst wusste davon lange nur wenig. "Früher habe ich mich noch nicht so recht dafür interessiert."
Einmal, nach dem Krieg, erinnert sich Müller, habe er gemeinsam mit seinen Großeltern die Herzbergs in deren Wohnung in Mannheim besucht. "Herr Herzberg war ein kleines Männelein. Seine Frau war einen Kopf größer." Dies sei das Einzige, woran er sich noch erinnern könne.
Mittlerweile, erzählt Müller, habe sich die Spur zur Familie Herzberg verloren. Seine Großeltern starben 1969. Neun Jahre später wurden sie in Israel posthum zu "Gerechten unter den Völkern" ernannt. Noch heute findet man ihren Namen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem – in einer Reihe mit dem evangelischen Pfarrer Hermann Maas und Oskar Schindler. Helden, das sei in diesem Zusammenhang aber der falsche Begriff, sagt Enkel Egon Müller. "Ich würde es einfach als Menschlichkeit bezeichnen."



