"Schöne neue Welt" in China

"Jeder wird sein eigener Gefängniswärter"

Journalist und Autor Kai Strittmatter über Chinas digitale Überwachung, das Sozialkreditsystem und die Gefahren für den Westen

09.05.2019 UPDATE: 10.05.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 27 Sekunden
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Von Michael Abschlag

Heidelberg. Kai Strittmatter ist Autor ("Die Neuerfindung der Diktatur") und hat acht Jahre lang als Korrespondent in China gelebt.

Herr Strittmatter, Sie sprechen mit Blick auf China von einer "digitalen Diktatur". Was heißt das?

China ist das erste existierende autoritäre System, dass sich mit voller Wucht in die neuen Informationstechnologien stürzt. Es gab ja vor einigen Jahren noch die Theorie, dass das Internet die Freiheit bringe und autoritäre Regime untergrabe. Doch die chinesische Regierung hat nicht nur keine Angst vor den neuen Technologien, sondern hat sie, im Gegenteil als Herrschaftsinstrument sogar lieben gelernt. Chinas Führung zensiert und beschränkt die neuen Medien nicht nur, sondern setzt sie auch gezielt ein. Das war so mit dem Internet, das war so mit den sozialen Medien, und seit zwei Jahren ist das auch bei der künstlichen Intelligenz der Fall. China investiert da so viel wie keine andere Regierung.

Hat denn die Überwachung in den letzten Jahrzehnten zugenommen? Eine Diktatur war China ja schon immer...

Das stimmt, aber China war nach Maos Tod dreißig oder vierzig Jahre lang auch ein Land, dass sich vorsichtig geöffnet hat. In dieser Zeit hat sich die Partei teilweise zurückgezogen aus dem Leben der Menschen. Xi Jinping hat das rückgängig gemacht. Zum einen ist das Regime wieder viel repressiver geworden und hat Freiheiten wieder zurückgenommen. Und zum anderem hat er diese neuen technologischen Möglichkeiten. Mit einem Bein will er zurück in die 1950er Jahre, in ein leninistisches System, mit dem anderen will er weit in die Zukunft. Wenn er allein auf die alte Form der Unterdrückung setzen würde, wie wir sie in der Sowjetunion oder unter Mao gesehen haben, dann würde das System wohl scheitern. Seine Wette ist aber: Wenn ich meine Diktatur mit einem digitalen Update versehe, dann schaffe ich eine völlig neue Form von politischer Herrschaft, die stabiler ist als die alten Systeme. Der neue Totalitarismus ist ein digitaler und kommt sehr viel smarter daher. Er will die Kontrolle in die Köpfe der Menschen selbst tragen - jeder soll sein eigener Gefängniswärter werden.

Damit sind wir beim Sozialkreditsystem. Wie funktioniert das denn genau?

Der Grundgedanke ist so ähnlich wie bei der deutschen Schufa, bei der unsere gesamte Finanzhistorie liegt. Die Chinesen haben das Prinzip übernommen, dass jeder aufgrund seines Verhaltens bewertet wird - und wollen es auf alle Lebensbereiche ausdehnen. Ein Pekinger Professor sagte mir: Aussagekräftiger als Ihr Finanzverhalten ist doch die Frage, wie Sie Ihre Eltern behandeln, oder ob sie schwarz mit der U-Bahn fahren. Die chinesische Führung will also auch das moralische und soziale Verhalten aller Bürger erfassen, und zwar pausenlos. Am Ende soll das durch Algorithmen noch in Echtzeit ausgewertet und sanktioniert werden. Wer sich aus Sicht des Systems "vertrauenswürdig" verhält und viele Punkte erhält, wird belohnt. Wer wenig Punkte hat und als "Vertrauensbrecher" gilt, wird bestraft und bekommt etwa keine Tickets mehr für Flüge oder Hochgeschwindigkeitszüge, sein Internet wird gedrosselt und seine Kinder können nicht mehr auf teure Schulen gehen. Noch läuft das ganze nur als Pilotprojekt in einigen Städten. Trotzdem gibt es bereits jetzt eine schwarze Liste mit Millionen von Namen.

Das heißt, das System ist sehr weit?

Landesweit starten soll es 2020. Aber ich glaube nicht, dass es dann schon ausgereift ist. Einzelne Puzzleteile existieren jetzt schon, etwa als Teil der kommerziellen Finanzapp Alipay. Die haben eine Anwendung, Sesame Credit, bei der man Punkte sammeln und sich so Vergünstigungen erarbeiten kann. Zudem arbeitet Sesame Credit zusammen mit Chinas größter Online-Partnerbörse, da können Sie in ihrem Profil mit ihrem tollen Punktestand werben. Wenn Sie übrigens viele schlecht bewertete Freunde haben, dann werden Sie selbst auch heruntergestuft. Am Ende sollen wohl kommerzielle und behördliche Modelle alle in ein gemeinsames System einfließen.

Stört das die Menschen denn nicht?

In China heißt es das "System der sozialen Vertrauenswürdigkeit", und wenn man Menschen darauf anspricht, sagen sie oft: Ja! Vertrauen ist genau das, was wir brauchen! Eines der größten Probleme in China ist das allgegenwärtige Misstrauen, das die Gesellschaft zerfrisst. Keiner vertraut keinem. Viele Leute sind deshalb erst einmal bereit, grundsätzlich alles gut zu finden, was mehr Vertrauen bringen würde. Die Regierung hat erkannt, dass das allgegenwärtige Misstrauen ein Hindernis darstellt auch für die Wirtschaft. Und die Akzeptanz der Regierung hängt stark am Wirtschaftswachstum. Man muss aber immer auch dazusagen: Es gibt in solchen Systemen keine objektiven Informationen und auch keine Debatte über solche Themen.

Sehen Sie die Gefahr, dass China solche Modelle ins Ausland exportiert?

Ja. Zum einen wollen die chinesischen Hightech-Konzerne aus kommerziellen Gründen in den Export gehen. Und zum anderen gibt es politische Ziele. Es gibt einen Bericht des Think Tanks "Freedom House", nach dem 36 von 64 untersuchten Staaten Teile der Überwachungstechnologien Chinas übernommen oder sich von Peking politische Schulung geholt haben. Vor allem Schwellenländer in Asien, Afrika und Südamerika. Und eine Handvoll dieser Staaten geht noch einen Schritt weiter und orientiert sich jetzt schon an der Gesetzgebung Chinas. China ist also bereits dabei, seinen Hi-Tech-Überwachungsstaat zu exportieren. Gleichzeitig hat Parteichef Xi Jinping ganz offen erklärt: Wir marschieren ins Zentrum der Welt. Peking will die Welt nun nach seinen Vorstellungen formen. Das ist neu. Die Neue Seidenstraße ist Teil dieser Bemühungen. Das hat direkt Bedeutung für uns, wenn etwa internationale Institutionen betroffen sind. Zudem nimmt China zunehmend auch direkt Einfluss bei uns, etwa über unsere Firmen, unsere Universitäten und Think Tanks. Wir sollten wachsam sein.

Info: Kai Strittmatter spricht am 12. Mai um 17 Uhr im DAI Heidelberg.