Initiativen wollen Menschen in Erdbebenregion helfen
"Die Zeit ist der entscheidende Faktor". Geld und Sachspenden werden gesammelt, manche reisen vor Ort.

Von C. Barth und T. Kegel
Sinsheim/Waibstadt. 11.000 Tote bis Mittwochnachmittag. Nahezu stündlich muss die Opferzahl nach oben korrigiert werden. Fassungslos wird auch von Sinsheim aus in die Erdbebenregion im Osten der Türkei und in Syrien geblickt. Viele Initiativen bilden sich im Moment, die helfen wollen.
Die Sinsheimer Fatih-Moscheegemeinde plant einen Verkauf von Lahmacun, Kuchen und Süßigkeiten zugunsten der Erdbebenhilfe nach dem Freitagsgebet und sammelt seit Tagen Spendengeld. Helfer der Mobilen Jugendarbeit Sinsheim sammelten am Mittwochabend am Bauwagen im Wiesental Hilfsgüter wie Decken, Kleidung und Hygieneartikel. Die in der Landessprache beschrifteten Kartons gehen an eine Initiative aus Eppingen. Und auch in türkischen und kurdischen Geschäften hängen Spendenkassen, Aufrufe, Beileidsbekundungen.
Die sechs Auslandsexperten vom Sinsheimer Technischen Hilfswerk stehen bereit für einen Abruf, sagt Leiter Patrick Bräunling, noch wisse aber niemand, ob dieser kommt. "Eine Welle von Anrufen und E-Mails" erreicht das Rathaus, die laut OB Jörg Albrecht "nicht zu bewältigen" ist; man könne zum jetzigen Zeitpunkt nur an "gut koordinierte Initiativen" verweisen.
Eine solche bereitet sich gerade im Kraichgau vor: Metin Kilic aus Steinsfurt ist ihr Sprecher; das Autohaus Mat in Waibstadt-Bernau hat seine Räume als Lager bereitgestellt. Kilic, dessen Wurzeln in der Nähe der Stadt Gaziantep im Osten des Lands liegen, sagt mit bedrücktem Blick: "Das Leben kann sich von einer Sekunde zur nächsten komplett ändern."
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Der 35-Jährige ist Staatsanwalt, aufgewachsen ist er in Deutschland. Am Tag nach dem Beben nahm er Urlaub, die gewaltige Zerstörung und das Leid der Menschen raubten ihm den Schlaf; das Foto einer jungen Frau, die, unter Trümmern begraben, ihr kleines Kind im Arm hält: beide tot – es hat sich eingebrannt.
Rund 100 Menschen fanden sich binnen zwei Tagen über Soziale Netzwerke, darunter Geschäftsleute und Unternehmer aus Sinsheim und dem Kraichgau. Kilics Bruder Mesut und sein Sohn Kutbeddin unterstützen die Arbeit ebenfalls.
Aus der Metropole Istanbul im Westen der Türkei verfolgt zurzeit Ufuk Bozaci, Chef der Dührener Avia-Tankstelle, die Situation, steht in Kontakt mit Leuten aus Sinsheim, die helfen wollen. Auch Bozaci verweist im Laden auf die Steinsfurt-Waibstadter Initiative um Kilic, weil es einer koordinierten Hilfe bedürfe, noch dazu schnell. Bei aller Notwendigkeit von warmer Kleidung, Decken und Hygieneartikeln sieht Bozaci ein Risiko, das es auch bei Hilfstransporten in die Ukraine zu Beginn gab: "Das werden sehr viele Lkw", das führe zu Stau an den Grenzen, zu bürokratischen und zollrechtlichen Hürden.
Und auch dazu, dass die Waren die teilweise schwer zugänglichen Gebiete zu spät erreichen. Geldspenden an Helfer des Vertrauens und ein dezentraler Einkauf vor Ort oder in direkten Nachbarländern würden eine effizientere Nothilfe ermöglichen, glaubt Bozaci.
Einen Verein gründen, der Geld und Hilfsgüter bereitstellt und Einsätze koordiniert, wollen nun Kilic und seine Helfer, "Internationale Katastrophenhilfe Sinsheim" soll er heißen, mit dem Ziel, künftig auch andernorts zu helfen. Die Spenden gingen "zu 100 Prozent" an die Opfer im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Dafür wolle man "persönlich sorgen", betont Kilic; vertrauenswürdige Personen aus dem "engen Helferkreis" selbst planten nun Reisen in die Unglücksorte.
"Sehr viele" der Helfer stammten aus dem Erdbebengebiet, würden sich "mit den örtlichen Gegebenheiten bestens auskennen". Weitere Helfer sollen den Verein vor Ort unterstützen. "Es sind Menschen, die wir kennen und denen wir vertrauen," sagt Kilic. Auch in entlegenes Gebiet wollen sie vorstoßen.
Gut vernetzt ist Kilic, er hat Kontakte in Adana, Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, Kahramanmaras sowie Malatya. Auf diese Weise soll Kontakt entstehen zu Menschen, die die wichtigen staatlichen Stellen erreichen können. Den ersten Flug ins Katastrophengebiet hat der vierfache Vater für diesen Freitag geplant. 13.000 Euro sind schon zusammengekommen. Davon sollen Decken, Zelte, Schlafsäcke, Campingkocher, Medikamente, Hygieneartikel oder warme Kleidung gekauft werden. Überlebende harren bei Minusgraden im Freien aus. "Sie bleiben dort, weil ihre Angehörigen unter den Trümmern liegen", weiß Kilic.
Nimet Toptik aus Sinsheim stammt aus der Region um Adana. Nahe Angehörige dort haben alles verloren. "Meine Schwiegereltern müssen jetzt draußen übernachten", sagt der Sinsheimer. Auch er will sich für die Hilfsaktion und im Verein engagieren.
Geldspenden seien momentan am effektivsten, sagt auch Kilic. Zwar hätten die Initiatoren auch Sachgüter und einen Lkw organisiert: "Doch der Laster wird fünf Tage unterwegs sein, bis er die türkische Grenze erreicht", erklärt Kilic. Warten, bis die Formalien der Vereinsgründung erledigt sind, kann er nicht, er tritt als Treuhänder des Spendenkontos auf. Er sagt: "Die Zeit ist der entscheidende Faktor."
Info: Zum Verein gibt es Infos per E-Mail an intkat.snh@gmail.com Die IBAN des Spendenkontos: DE35 6729 2200.0071.1435 03; Kontoinhaber Metin Kilic; Verwendungszweck: Spende für die Erdbebenopfer 2023.