Von Daniel Bräuer
Für Leute wie Annika* war YouNow einmal gedacht. Die junge Frau aus Wien sitzt in ihrer Studentenbude und singt. Zur Gitarre, zur Ukulele, sie singt gut. Sie bekommt viele "Likes". Das Internet, eine weltweite Kleinkunstbühne. Für so viel Aufmerksamkeit müsste man lange in der Fußgängerzone sitzen. "Drück dich aus", lautet der Slogan der Videoplattform, "und sende live ans Publikum".
Für Melanie* ist YouNow gar nicht gedacht. Sie lümmelt auf dem Bett im Hintergrund herum, während ihre Schwester (16) in die Webcam spricht. In diesem Moment kann die ganze Welt Melanies alberne Grimassen sehen, ihre ebenso albernen Bemerkungen hören, den Namen des Jungen, auf den sie wohl steht. Melanie ist zehn Jahre alt. Auf YouNow dürfte sie erst in drei Jahren auftauchen. Eigentlich müsste jetzt jemand den Account ihrer Schwester "flaggen", den Moderatoren melden.
Das Prinzip von YouNow ist denkbar einfach - und verlockend: Jeder mit einer Webcam oder einem Smartphone kann einen eigenen Videostream starten, ohne weitere Software, ohne lästiges Schneiden und Hochladen. Zwei Klicks, und du bist online, mit Zuhörern und Zuschauern in aller Welt per Chat verbunden.
Das hat Kritiker auf den Plan gerufen. Eine der Befürchtungen: YouNow könnte eine große Spielwiese für Pädophile sein: Kinderschlafzimmer-TV, anonym und unkompliziert. Zuschauen kann jeder. Eingeloggte Nutzer können mitchatten - und aufdringlich werden?
Christian Gottas ist Medienpädagoge bei der Landeszentrale für Medien und Kommunikation (LMK) in Rheinland-Pfalz. In den Seminaren und Workshops, die die LMK zum Thema Jugendschutz im Netz anbietet, haben sich zumindest bislang keine Schüler über Vorfälle auf YouNow beschwert, sagt er. "Es gibt regelmäßig sehr dubiose Anfragen", sagt dagegen Sascha Schmidt. Er beobachtet YouNow fürs baden-württembergische Landesmedienzentrum. "Es wird offen danach gefragt, ob man sich nicht mal treffen will, oder Mädchen werden aufgefordert, ein bisschen Haut zu zeigen." Schmidt warnt eindringlich davor, auf solche Kontaktversuche einzugehen. Er befürchtet: "Viele gehen sehr naiv mit dem Angebot um und geben sehr tiefe Einblicke in die Privatsphäre." Name? Adresse? Telefonnummer? Allein zu Hause? Alles schon erlebt. Für Nutzer hat Schmidt vor allem einen Tipp: "Man sollte sich fragen: Würde man sich auch auf der Straße so zeigen? Würde man auf Zuruf eines Fremden das Oberteil runterziehen?"
Auf eine erste Welle der Kritik hat YouNow inzwischen reagiert: Das Portal ist freiwillig dem Verein "Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter" beigetreten. FAQs, Nutzungsbedingungen und Datenschutzregeln gibt es inzwischen auch auf Deutsch. Sich oben ohne zu zeigen verbietet das Portal bei Androhung von Kontosperren. Doch vieles bleibt Ankündigung. Der Startseite ist ein Pop-Up-Fenster mit der Frage vorgeschaltet: Bis du älter oder jünger als 13 Jahre alt? Eine wirkliche Hürde ist das nicht.
Um die Einhaltung der Regeln zu überwachen, will die Firma eigens mehr deutschsprachige Moderatoren eingestellt haben. "Täglich vergrößern wir dieses Team", heißt es. Nutzer werden aufgefordert, Verstöße zu melden. Zugleich häufen sich auf den YouNow-Kontaktseiten Beschwerden, dass das "Flaggen" keine Konsequenzen hätte. Im Gegenteil: So mancher "Flagger" beklagt sich, dass er selbst ohne Angabe von Gründen suspendiert worden sei.
Der Reiz von YouNow ist die einfache Nutzung. Im Handumdrehen können Nutzer sich mit der Welt verbinden und der Netz-Berühmtheit von prominenten YouTubern nacheifern. Bekanntsein spielen. "Wie YouTube - nur in Echtzeit", sagt Gottas. Das heißt aber: Was einmal gesagt ist, ist draußen in der Welt. Kein Schnitt, keine Nachbearbeitung. Und der Satz, dass das Netz nicht vergisst, stimmt auch hier. Nicht nur, weil die Streams gespeichert werden und der jeweils letzte weiter abrufbar bleibt. Andere Nutzer könnten auch mitschneiden oder Screenhots speichern und so jede mögliche Peinlichkeit weiterverbreiten. Mobbing wäre Tür und Tor geöffnet.
Dass YouNow davor warnt, im Hintergrund Musik abzuspielen, scheint die wenigsten zu stören. Bei allen könnte sich die GEMA melden. "Das kann teuer werden", warnt der Mainzer Medienanwalt Karsten Gulden. Auch Streams direkt aus dem Klassenzimmer, wie sie noch immer zu beobachten sind, sind heikel: Nicht nur, weil Handys im Unterricht ohnehin tabu sind, wie das Kultusministerium in Stuttgart betont. Ungefragt andere einem Millionenpublikum vorzuführen ist sogar ein klarer Rechtsverstoß.
Sascha Schmidt macht ein weiteres Problem aus. Zwei virtuelle Währungen gibt es auf YouNow: Coins (Münzen) und Bars (Goldbarren). Seitdem YouNow prominente YouTuber wie BibisBeautyPalace an Bord geholt hat, kann es durchaus Kanäle mit mehreren Tausend Zuschauern geben. Wer dort im Chat noch auffallen will, muss sich mit "Premiumgeschenken" an den Streamer bevorzugten Zugang verschaffen. Die gibt es für eine bestimmte Anzahl Bars - und die kosten bares Geld. 1200 Bars für 9,99 US-Dollar (knapp 9 Euro) sind das am meisten gekaufte Paket - die Angebote reichen von drei bis 50 Dollar. Die gefühlte "Nähe" zu den Online-Idolen soll Nutzern das Geld aus der Tasche ziehen, fürchtet Schmidt, und rät dazu, die In-App-Käufe prinzipiell zu deaktivieren. "Das ist aus finanzieller Sicht schon mal ein guter Ratschlag."
Mit Coins kann man zum Beispiel Mehrfach-Likes vergeben. Und Coins muss man sich verdienen. Durch das Anwerben neuer Mitglieder - oder durch möglichst langes und regelmäßiges Nutzen. Sprich: Das Portal hat gezielt den Anreiz eingebaut, gar nicht mehr rauszugehen.
Vielleicht kommt auch deswegen sehr häufig viel Leerlauf zustande. Bloß nicht offline gehen. Streamer liest aus dem Chat vor. Streamer dankt für Likes. Streamer liest vor. Streamer fragt, was er noch erzählen könnte. So wie bei Azize*, einem Mädchen aus einer süddeutschen Großstadt. Wie 13 sieht auch sie nicht aus. Ein Zuschauer fragt, ob ihr mal etwas Peinliches passiert sei. Es dauert nicht lange, da plaudert sie Anekdoten aus, von denen man nur mutmaßen kann, dass eigentlich nicht alle Welt sie hören sollte. Nur ein User hat offenbar Erbarmen und schreibt: "Geh mal bitte weg von YouNow, Alter, du bist voll zu jung."
*Namen geändert.