Keine einfache Sache

Partnersuche ohne Berühren

Wie findet man den Partner fürs Leben? Keine einfache Sache. Für viele strengreligiöse Juden ist der Weg zur Ehe allerdings klar geregelt: Sie suchen sich Heiratsvermittler und setzen auf einen Charakter-Check bei beiden Ehekandidaten.

27.06.2017 UPDATE: 27.06.2017 10:16 Uhr 7 Minuten, 16 Sekunden

Nechama Switzer liest in ihrem Notizbuch, in welchem die Männer eingetragen sind, die sie bereits kennengelernt hat, in einem Hostel für jüdische Mädchen (Heritage House) in der Jerusalemer Altstadt. Die junge Frau sucht mithilfe der ultra-orthodoxen Heiratsvermittlerin Chaja Weisberg einen Mann, um eine Familie zu gründen. Foto: dpa

Von Stefanie Järkel

Jerusalem (dpa) - Nechama Switzer hat ein Buch der Hoffnung vor sich liegen. Es ist ein schwarzes Notizheft mit ausgefransten Ecken. Seitenweise reihen sich darin Namen aneinander. Namen von jungen Männern, von möglichen Ehemännern. "Auch wenn ich wie eine Serien-Daterin wirke, jeder bedeutet Hoffnung", sagt Nechama Switzer - 30 Jahre alt, schlank, lange blonde Locken. An ihren Ohrläppchen baumeln goldene Davidsterne, der rote Rock reicht bis über das Knie. Jeder der rund 120 Männer, die sie getroffen hat, hätte der zukünftige Vater ihrer Kinder sein können.

Doch ihr Buch der Hoffnung ist auch ein Buch der Enttäuschung. Hinter jedem Namen stehen das Alter, wer den Mann empfohlen hatte - und warum er nicht ihr Ehemann wurde. "Ich habe alles aufgeschrieben", sagt Switzer in einem Dachzimmer eines Hostels in der Altstadt von Jerusalem, wo sie wohnt und arbeitet. "Er roch schlecht." Oder: "Ich mochte ihn, aber er hat "Nein" gesagt." Switzer muss den Überblick behalten, falls ein Name irgendwann wieder auftaucht.

Die Frau stammt aus einer Welt, in der Jungen und Mädchen weitgehend getrennt aufwachsen: Switzer ist strengreligiöse Jüdin. In dieser Welt gibt es Schulen für Mädchen und andere Schulen für Jungen. Switzer verabredet sich nicht selbst mit Männern. Sie hat keine männlichen Freunde, sie geht nicht in die Disco.

Doch wie kommt man in dieser Welt in Kontakt mit Männern, wenn Online-Plattformen wie Tinder und Parship keine Option sind? Wie findet man einen Partner fürs Leben, um eine Familie zu gründen?

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Man fragt eine Schadchanit - eine professionelle Heiratsvermittlerin. "Ich habe mindestens 20 Heiratsvermittler getroffen", sagt Switzer. "Rund zehn davon in Jerusalem." Aktuell lässt sie sich von Chaja Weisberg helfen, Leiterin des Hostels, in dem jüdische Frauen auf Reisen günstig Schlafplätze mieten können. Weisberg ist verheiratet, mit dem siebten Kind schwanger - und überzeugte Heiratsvermittlerin.

Weisberg stammt aus dem US-Bundesstaat New Jersey und kam mit 18 Jahren nach Jerusalem, um das Judentum zu studieren. Sie hat einen Master in Psychologie und Familientherapie, trägt schwarzen Lidstrich und eine braune schulterlange Perücke, schwarzen Rock, Bluse und Turnschuhe. Als strengreligiöse Jüdin zeigt sie möglichst wenig Haut. Verheiratete Frauen verstecken ihr Haar zudem unter einer Perücke oder einem Kopftuch, weil Haare als aufreizend für Männer gelten.

KEINE BEZIEHUNG AUSSERHALB DER EHE

Die 34-Jährige kam durch ihr Hostel zu der Vermittlertätigkeit als Matchmaker, so der englische Begriff. "Ich habe so viele junge Frauen getroffen, die sich für einen traditionelleren, jüdischen Lebensstil entschieden hatten", sagt sie. Sie habe helfen wollen. "Es ist hart, ein älterer Single zu sein", berichtet sie über die tiefreligiöse Gemeinschaft, wo Menschen normalerweise mit Mitte 20 verheiratet sind und Kinder haben. "Es gibt grundsätzlich keine Beziehungen außerhalb der Ehe."

Kurz nach ihrer Hochzeit vor fast 14 Jahren hätten sie und ihr Mann angefangen, Männer und Frauen zu vermitteln, erzählt Weisberg. Sie schrieben Listen mit Namen und hefteten sie an den Kühlschrank. Dann sammelten sie die Informationen in einem Buch - wie sie es bis heute macht. Aktuell hat Weisberg jeweils 50 bis 60 Männer und Frauen aufgelistet.

Strengreligiöse Juden fangen meist im Alter von etwa 18 Jahren mit der Suche nach einem Partner an. Weisberg setzt sich mit jedem Kandidaten und jeder Kandidatin eine Stunde zusammen. "Als erstes frage ich: Welche Eigenschaften bewunderst du bei anderen Menschen? Was respektierst du?", erzählt sie. Diese Punkte würden für sie auch die Basis für eine lang anhaltende Beziehung bilden.

Weisberg sitzt im Aufenthaltsraum ihrer Herberge. Über durchgesessenen Sofas liegen braune Überwürfe, eine Plastikorchidee mit weißen Blüten steht in der Ecke. Ab und an schauen junge Frauen in der Teeküche nebenan vorbei, das Telefon klingelt, der Anrufbeantworter springt an.

Wenn sie mit den Menschen spreche, schaue sie: "Sind sie lebhaft, sind sie entspannt, sind sie kreativ?" Weisberg versucht, die Charaktere der Kandidaten zu verstehen. "Wenn ich mir die Menschen vorstelle, dann stelle ich mir die Person vor, die sie ausgleicht." Menschen, die zu Extremen neigten, bräuchten ein Gegenstück, ist Vermittlerin Weisberg überzeugt. Eine kontaktfreudige Person könne gut durch einen ruhigeren Partner ergänzt werden. Ausgeglichene Menschen bräuchten ausgeglichene Partner.

LANGE FOLGE VON PRÜFUNGEN 

Außerdem muss jeder Referenzen angeben: Menschen, die sich für ihn aussprechen, Freunde, Familie, und einen Mentor, wie einen Rabbi oder einen Lehrer.

Wenn Weisberg das Gefühl hat, eine Frau und ein Mann könnten zusammenpassen, fragt sie zuerst den Mann. "Der Mann wird weniger verletzt sein, wenn ihn die Frau ablehnt", sagt Weisberg. Er schaut sich das Profil der Frau an und lässt einen Vertrauten bei ihren Referenzen anrufen.

Ist der Mann interessiert, informiert Weisberg die Frau. Diese lässt sein Umfeld ebenfalls überprüfen. Wenn sie zustimmt, vereinbart die Vermittlerin ein Date. "Vor dem ersten Treffen weißt du alles über die Person auf einem technischen Level", sagt Weisberg - Alter, Wohnort, Familie, Bildung.

Wie strikt der mögliche Partner überprüft werde, unterscheide sich von Strömung zu Strömung innerhalb der tiefreligiösen Gemeinschaft, sagt Batia Siebzehner, Sozialwissenschaftlerin an der Hebräischen Universität in Jerusalem. "Manche versuchen, so viele Informationen wie möglich zu bekommen, nicht nur über das Mädchen oder den Jungen, sondern auch über seine oder ihre Familie", berichtet Siebzehner. "Wenn einer der Brüder oder Schwestern die religiöse Gemeinschaft verlassen hat, verringert das die Chancen auf eine Heirat."

Das erste Treffen findet in einem Café oder einer Hotellobby unter Menschen statt. "Du kannst nicht an einem abgelegenen Ort sein, wo niemand vorbeikommt", sagt Weisberg. Diese Regel gilt bis zur Hochzeit. Berühren dürfen sich die jungen Leute auch nicht - selbst wenn sie verlobt sind.

Nach jedem Treffen spricht die Heiratsvermittlerin mit jedem einzeln und fragt: Was mochtest du? Was mochtest du nicht? "Es ist für beide Seiten wichtig, alles auszudrücken: das Gute, das Schlechte, das, worüber man sich wundert", sagt Weisberg. Stört sich eine Person etwa an bestimmten Verhaltensweisen der anderen, vermittelt sie, erklärt, dass er müde war oder sie nervös. Lehnt der Mann die Frau oder anders herum ab, teilt die Vermittlerin das der anderen Seite mit.

15 BIS 20 TREFFEN VOR DER HEIRAT 

Sind beide zufrieden, spazieren die jungen Menschen gemeinsam durch Parks, besuchen den Zoo und essen in Restaurants. "Die übliche Zahl an Treffen, bis Menschen bereit sind zu heiraten, sind 15 bis 20", sagt Weisberg. Es sei auch gefährlich, mit dem Antrag zu lange zu warten. Dann könne die Beziehung in einer Sackgasse landen. Nach der Verlobung wird innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten geheiratet.

Traditionell geben die Paare Heiratsvermittlern am Ende Geld - als Glücksbringer für die Ehe. Doch Weisberg betont: "Heiratsvermittler werden nicht reich." Manche Menschen begleite sie auf ihrer Suche über Jahre hinweg.

"Ich will jemanden, der freundlich ist, intelligent, der Tora voller Hingabe folgt, verantwortungsbewusst ist und arbeitsorientiert sowie mental gesund", sagt Nechama Switzer. Die gebürtige Kanadierin, Ernährungsexpertin und Mitarbeiterin des Hostels, teilt sich ihr Dachzimmer mit einer anderen jungen Frau. An der Wand über ihrem Bett hängt ein gemaltes Bild, "Savta Nechama" steht darauf in Hebräisch-Englisch - Oma Nechama. Kranke Gäste haben ihr das Bild geschenkt, weil sie sich um sie gekümmert hatte.

Sie habe sich am Anfang mit jedem getroffen, der ihr empfohlen worden sei, erzählt Switzer. "Ich war nicht so vorsichtig damit." Sie habe die Hintergründe vorher nicht überprüft. Nach wenigen Verabredungen sei stets wieder Schluss gewesen. "Das Häufigste, was ich gemacht habe, waren sieben Treffen mit einer Person - erst kürzlich." Am Ende habe er sie nicht mehr sehen wollen.

Eine Frau erscheint am Türrahmen und steckt den Kopf in den Raum. "Sie hat es geschafft", sagt Switzer aufgeregt. "Sie trägt ein Tichel (jiddisch für Haarband)", und zeigt auf die blonde Perücke der Frau mit dem breiten Stoffband über der Stirn. Weisberg hat ihr einen Ehemann vermittelt. Die Frau grinst und zieht sich wieder zurück.

Switzer sagt über das Daten: "Es ist ein sehr frustrierender Prozess. Es zehrt sehr an den Nerven." Nach jedem Treffen müsse sie warten, bis sich die Heiratsvermittlerin meldet. "Das kann 24 Stunden dauern." Und stets die Hoffnung im Herzen, dieser Mann könnte ihr Zukünftiger sein.

"KEIN EMOTIONALER PROZESS"

Allerdings betont sie auch, wie nüchtern die Treffen und das Kennenlernen ablaufen: "Es ist kein so emotionaler Prozess." Man überprüfe gegenseitig, ob man zusammenpasse. Emotional werde es höchstens kurz vor der Verlobung.

"Man wird den Begriff Liebe bei ultra-orthodoxen Heiratsvermittlern nicht finden", sagt Kimmy Caplan, Historiker von der Bar-Ilan-Universität in der Nähe von Tel Aviv. Die Idee sei nicht: "Man verliebt sich und heiratet dann." Es gehe auch nicht darum, viel Zeit mit dem Freund oder der Freundin zu verbringen. In manchen Gruppierungen träfen sich Mann und Frau nur ein Mal vor der Hochzeit und entschieden sich dann schon. Die Möglichkeit "Nein" zu sagen, gebe es aber immer.

Donna Jocheved ahnte beim Lesen seines Profils schon, dass Josef ihr zukünftiger Ehemann sein würde. "Ich habe gespürt, wir haben eine Menge gemeinsam", sagt die 25-Jährige in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung nördlich der Jerusalemer Altstadt. Baby Adina Deborah schläft nebenan. Auf dem Küchentisch steht ein gemaltes Bild des Paares, sie mit langen braunen Haaren, er mit einem bunten Hut auf dem Kopf beim jüdischen Purim-Fest. Das Bild war ein Verlobungsgeschenk.

Ihr sei wichtig gewesen, dass ihr Mann tiefgründig und sich seiner Gefühle bewusst sei sowie eine freundliche Person, sagt Donna Jocheved. Josef wollte eine gute Mutter für seine Kinder: "Jemanden, der sehr warm, liebevoll und fürsorglich ist", wie der 27-Jährige sagt. Chaja Weisberg hat den Studenten der Sozialarbeit und die gelernte Krankenschwester zusammengebracht.

Das erste Date im Februar 2016 war allerdings ein Desaster. "Wir mochten uns eigentlich nicht", sagt sie, braune lange Perücke, weißes Oberteil mit Blumen. "Es ist überhaupt nicht gut gelaufen", sagt er, lange Schläfenlocken, schwarze Samtkippa, weißes Hemd. Wahrscheinlich seien sie beide nervös gewesen. Ihre Mentoren, ein Rabbi und die Frau eines Rabbis, hätten ihnen geraten, sich noch einmal zu treffen.

ANFANGS EIN DESASTER, DANN KAM DER ANTRAG 

Das zweite Date war besser. Beim fünften dachte sie: "Da gibt es eine Menge Potenzial." Irgendwann lernten sie die Familien des anderen über Skype kennen. Donna Jocheved wuchs in Chicago auf, ihr Mann wurde in New York geboren.

Nach etwa zehn Treffen fragte er sie, ob sie seine Frau werden wolle. Im Juni 2016 heirateten beide mit rund 150 Gästen in Jerusalem. Adina Deborah kam im April auf die Welt.

Donna Jocheved stammt aus einer weltlichen jüdischen Familie. Sie hatte auch feste Freunde, bevor sie strengreligiös wurde. Das Problem sei allerdings gewesen zu wissen, was der andere wolle, sagt sie. "Mein Ziel war immer, einen festen Freund zu haben und zu heiraten." Bei Josef habe sie schnell Klarheit gehabt. Für ihn wiederum war Donna die erste Frau überhaupt, die er auf der ernsthaften Suche nach einer Lebenspartnerin getroffen hatte.

Die Jocheveds haben geschafft, wovon Nechama Switzer noch träumt. Regelmäßig betet die junge Frau darum, einen Partner zu finden. Sorge, in eine Beziehung zu gehen, ohne mit dem Mann intim gewesen zu sein, hat sie keine. "Ich suche einen Gentleman, sagt sie. "Jemand mit einem guten Charakter wird ein großartiger Ehemann sein, der eine Ehefrau glücklich macht und letztendlich ein glückliches Heim schafft."

Wenn sie einen Ehemann gefunden hat, muss sie sich noch überlegen, was sie mit ihrem Buch mit den 120 Namen machen soll. "Ich weiß noch nicht, ob ich es verbrenne oder aufhebe." Vielleicht könne sie ja mal jemanden aus der Liste an eine Freundin vermitteln.