Positiv arbeiten

Für HIV-Infizierte gibt es heute keine Job-Einschränkungen mehr

Dennoch sind sie Menschen mit einer HIV-Infektion noch immer Vorurteilen ausgesetzt.

29.11.2019 UPDATE: 01.12.2019 06:00 Uhr 4 Minuten, 22 Sekunden
Sie setzen sich dafür ein, dass sich HIV-positive Menschen im Arbeitsalltag nicht länger verstecken müssen: Jörg Beißel (links) und Ernesto Marinelli, Personalchef für Europa, Afrika, China und Taiwan bei SAP. Fotos: ZG

Von Barbara Klauß

Heidelberg/Walldorf. Jörg Beißel ist das positive Gesicht von SAP. Und er ist es aus Überzeugung. In der Zentrale in Walldorf sitzt der junge Mann in einem Coffee Corner, einer Kaffee-Ecke, auf einer weißen Couch und trinkt Cappuccino. Jörg Beißel trägt einen kurzen Bart, eine stylishe Brille und zwei Ohrringe. Ein freundlicher, offener Mann, der ruhig und überlegt erzählt – von seiner HIV-Infektion.

Seit ein paar Monaten tritt er offen ein "für einen diskriminierungsfreien Umgang mit HIV-positiven Menschen im Arbeitsleben". So lautet der Titel einer Arbeitgeberdeklaration, die im Juni auf Initiative der Deutschen Aidshilfe (DAH) zusammen mit SAP und IBM ins Leben gerufen wurde (siehe Hintergrund). Jörg Beißel ist Teil der Kampagne dazu, er spricht auf Podien und in kleineren Runden mit Menschen darüber, was es heutzutage bedeutet, positiv zu sein – und zu arbeiten.

Hintergrund

Firmen setzen Zeichen gegen Diskriminierung

Sie wollen mit gutem Beispiel vorangehen, den Respekt in ihren Unternehmen fördern und sich klar gegen Benachteiligung stellen: Auf Initiative der Deutschen Aidshilfe (DAH) haben im Juni dieses Jahres mehr

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Firmen setzen Zeichen gegen Diskriminierung

Sie wollen mit gutem Beispiel vorangehen, den Respekt in ihren Unternehmen fördern und sich klar gegen Benachteiligung stellen: Auf Initiative der Deutschen Aidshilfe (DAH) haben im Juni dieses Jahres mehr als 50 Unternehmen und Organisationen eine Deklaration gegen Diskriminierung von Menschen mit HIV im Arbeitsleben unterzeichnet – darunter neben SAP und IBM der Autobauer Daimler und die Stadt Mannheim. Weitere folgen. Auch bei der Stadt Heidelberg laufen derzeit verwaltungsintern Abstimmungen zur Unterzeichnung der Deklaration.

"Die Stadt Heidelberg als Arbeitgeberin spiegelt die gesellschaftliche Vielfalt wider", erklärt Bürgermeister Wolfgang Erichson. "Dazu gehören auch Menschen mit HIV, die selbstverständlich ihre Talente und Fähigkeiten einbringen." Es werde Zeit, dass auch Heidelberg signalisiere: "HIV-positive Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Kolleginnen und Kollegen wie alle anderen."

"Arbeit ist ein zentraler, sinnstiftender Bestandteil des Lebens", heißt es in der Deklaration. "Berufliche Benachteiligung verletzt die Menschenwürde, führt zu psychischer Belastung und macht Angst. Benachteiligung schwächt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und schwächt Unternehmen." Im Fall von Diskriminierung sollen sich die Mitarbeiter der unterzeichnenden Unternehmen unter anderem an Beschwerdestellen wenden können, Führungskräfte und Betriebsräte sollen über das Leben mit HIV informiert werden.

Die Unternehmen begreifen die Unterzeichnung nicht nur als Frage individueller Rechte, sondern auch als Teil der Diversity-Strategie. Akzeptanz, meinen sie, sei "unerlässlich für ein produktives Betriebsklima". So sieht es auch Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth: "Wir sind überzeugt, dass Menschen motivierter, leistungsfähiger und zufriedener sind, wenn sie sich mit ihrer Persönlichkeit und Identität so einbringen können, wie sie sind."

Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz erklärt, mit der Unterzeichnung der Deklaration unterstreiche die Stadt ihren Anspruch, ein Arbeitsklima zu schaffen, das von Offenheit und gegenseitigem Respekt geprägt sei, ein Klima, in dem alle Mitarbeitenden akzeptiert werden und ihre Potenziale bestmöglich entfalten können. Und Ernesto Marinelli, Personalchef für Europa, Afrika, China und Taiwan bei SAP, erklärt: "Wir bei SAP stehen für Respekt für jeden. Wir haben keine Angst vor Vielfalt. Vielfalt ist für uns wichtig, denn Vielfalt bedeutet Innovation. HIV ist für uns eine von zahlreichen Facetten." (kla) 

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Viereinhalb Jahre ist es her, dass er sich mit dem Virus infiziert hat. Nun lebt der 37-Jährige damit ein ganz normales Leben: mit einem Partner, mit Freunden, mit Sport – und mit einem Job bei Europas größtem Softwarekonzern. Gesundheitliche Einschränkungen hat er nicht. Jeden Tag schluckt er eine Tablette, alle drei Monate geht er zum Arzt. Er ist nicht öfter krank als andere, Auswirkungen auf seine Arbeit oder seine Leistungsfähigkeit hat das Virus nicht.

"HIV braucht im Arbeitsalltag überhaupt keine Rolle zu spielen", erklärte DAH-Vorstand Winfried Holz bei der Unterzeichnung der Deklaration. Bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung könnten Menschen mit HIV genauso arbeiten wie alle anderen. "Die Medizin hat HIV heute gut im Griff", fügte Hans-Jürgen Stellbrink hinzu, Mediziner und Präsident des Deutsch-Österreichischen Aids-Kongresses. "Ängste vor einer Übertragung bei der Zusammenarbeit waren schon immer unbegründet. Unter Therapie ist eine Übertragung von HIV prinzipiell nicht mehr möglich."

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Dennoch ist es nicht selbstverständlich, dass Menschen, die HIV-positiv sind, arbeiten. Von den rund 80.000 Infizierten in Deutschland arbeiten Schätzungen zufolge etwa zwei Drittel. Von denen aber halten laut Aidshilfe wiederum zwei Drittel ihre Infektion geheim.

So wie Thomas M. Ein sportlicher Mann mit kurzen Haaren, knapp 50 Jahre ist er alt. Vor fast 20 Jahren erfuhr er, dass er infiziert ist. Damals dachte er: Das war es. Doch dann lernte er mit der Infektion zu leben, die Medikamente halfen. Von außen betrachtet hat sich sein Leben kaum verändert. Nach wie vor arbeitet er – in einem Beruf, in dem Männer eher unter sich sind. Seine Kollegen wissen nichts von seiner Infektion, seit 20 Jahren lebt er mit diesem Geheimnis. Zu groß ist die Angst vor ihrer Reaktion.

Karl-Heinz Riegler. Fotos: ZG

Sie scheint berechtigt. In einem gemütlichen Besprechungsraum in einem Hinterhaus in der Heidelberger Weststadt sitzt Karl-Heinz Riegler an einem Holztisch. In der täglichen Arbeit hier erleben sie oft, dass Menschen, die offen über ihre Infektion sprechen, von Kollegen oder vom Arbeitgeber diskriminiert werden, sagt der Vorstandsvorsitzende der Aidshilfe Heidelberg. Menschen, die sich outen, sind vielen Vorurteilen ausgesetzt: Sie seien häufig krank, schlecht fürs Image des Unternehmens oder gar eine Gefahr für die Kollegen. Im Kleinen sind es abschätzige Bemerkungen, im schlimmsten Fall ist es der Rausschmiss. Sozialpädagogin Heidi Emling erzählt von einem jungen Mann, der als Kellner arbeitete. "Er hat sich seinem Arbeitgeber anvertraut – am nächsten Tag war die Kündigung da."

Rechtens ist das nicht. Ebenso wenig wie die Ablehnung eines Bewerbers, der HIV-positiv ist, wie das Verwaltungsgericht Hannover in diesem Sommer festgestellt hat. Die niedersächsische Landespolizei hatte im Oktober 2016 die Bewerbung eines Mannes als Polizeikommissar-Anwärter abgelehnt. Argumentiert wurde, er sei wegen seiner HIV-Infektion für den Polizeidienst untauglich. Das Gericht gab dem Kläger jedoch recht: Weder drohe eine vorzeitige Dienstunfähigkeit, noch bestehe ein Risiko, dass er Kollegen oder Bürger anstecken könnte.

Hintergrund

HIV ist die Abkürzung für "Humanes Immundefizienz-Virus" (menschliches Abwehrschwäche-Virus). Das Virus schädigt das Immunsystem und Organe. Die Infektion ist zwar nicht heilbar, es gibt aber laut der Deutschen Aidshilfe Medikamente, die die Vermehrung des Virus verhindern.

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HIV ist die Abkürzung für "Humanes Immundefizienz-Virus" (menschliches Abwehrschwäche-Virus). Das Virus schädigt das Immunsystem und Organe. Die Infektion ist zwar nicht heilbar, es gibt aber laut der Deutschen Aidshilfe Medikamente, die die Vermehrung des Virus verhindern. Bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung haben HIV-Infizierte heute eine annähernd normale Lebenserwartung. Wird die Infektion nicht behandelt, schreitet die Immunschwäche fort, nach Jahren können lebensbedrohliche Erkrankungen auftreten. Dann spricht man von Aids.

HIV ist laut Aidshilfe relativ schwer übertragbar. Ein Infektionsrisiko besteht nur, wenn Viren in ausreichender Menge mit offenen Wunden oder Schleimhäuten in Berührung kommen. Am häufigsten wird HIV daher beim Geschlechtsverkehr weiter gegeben. Sehr riskant ist außerdem die gemeinsame Benutzung von Spritzen beim Drogenkonsum. Bei einer erfolgreichen HIV-Therapie ist die sogenannte Viruslast, also die Virusmenge im Blut und anderen Körperflüssigkeiten, allerdings so gering, dass das Übertragungsrisiko sehr niedrig ist. Keine Ansteckungsgefahr besteht, unabhängig von der Viruslast, im Alltag – also beim Händeschütteln, beim Anniesen, beim Benutzen des selben Geschirrs und der selben Toilette.

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Es sind wohl irrationale Ängste, die eine Rolle spielen – und alte Bilder, die sich in den Köpfen festgesetzt haben. In den 1990er Jahren wurde HIV noch gleichgesetzt mit Aids. Das Virus bedeutete Krankheit und Tod. Die ersten Medikamente hatten heftige Nebenwirkungen. An Arbeit war oft nicht zu denken.

Es war in dieser Zeit, Angang der 90er, als Karl-Heinz Riegler sich infizierte. Damals arbeitete er als Betriebswirt bei einem Stahlgroßhandel in Mannheim. Auch er outete sich nicht. Als sein Immunsystem immer schwächer wurde, er immer mehr Krankheiten bekam, erfand er ein Krebsleiden, um die medizinischen Behandlungen erklären zu können. "Aber irgendwann ging es nicht mehr", sagt er. Schließlich wurde er berentet, wegen "Vollbild Aids", wie es damals hieß.

"Das war eine vollkommen andere Zeit", erklärt Riegler, der heute 57 Jahre alt ist. "Was sich in der Medizin seither getan hat, ist unglaublich." Er freut sich, dass die Menschen heute mit HIV ein so normales Leben führen können.

Und dennoch traute sich – fast 30 Jahre später – auch Jörg Beißel zunächst nicht, bei der Arbeit offen über seine Infektion zu sprechen. "Aus Angst, ausgegrenzt zu werden", wie er sagt. Doch das Geheimnis belastete ihn. Ständig hatte er, der sich als Senior Facility Specialist bei SAP um die Außenanlagen kümmert, das Gefühl, sich zu verstellen. Ein weiteres Problem: Alle drei Monate muss er zur Blutkontrolle. "Ich war vorher so gut wie nie beim Arzt, dann plötzlich regelmäßig. Wie sollte ich das erklären?", fragt er.

Es gibt auch heute noch Menschen, die sich weniger stigmatisierte Krankheiten ausdenken, um nicht über ihre HIV-Infektion sprechen zu müssen. "Ich will nicht in einer Welt leben, in der Mitarbeiter auf so etwas zurückgreifen müssen", erklärt Ernesto Marinelli, Personalchef für Europa, Afrika, China und Taiwan bei SAP. Der Mensch brauche Sicherheit, um gut arbeiten zu können, meint er. "Wenn ich immer Angst haben muss, dass etwas herauskommt, kann ich nicht mehr meine volle Leistung bringen und kreativ sein."

Nach mehr als drei Jahren vertraute sich Jörg Beißel seinem Chef an. Der nahm ihn in den Arm und versprach, ihn zu unterstützen. Eine Last fiel von dem jungen Mann ab. "Vorher hatte ich das Gefühl, auf Treibsand zu stehen", sagt er. "Wieder der sein zu können, der ich bin, so auch angenommen zu werden – das hat mir mein Fundament zurückgegeben."

Er outete sich seinen Kollegen gegenüber, sprach in einem Video, das konzernweit veröffentlicht wurde, über seine Infektion. Die Reaktionen waren überwältigend. Und zu 98 Prozent positiv – wenn auch nicht alle. "Wir haben 100.000 Mitarbeiter", erklärt Marinelli. "SAP ist ein Abbild der Gesellschaft – mit allen Vorurteilen, die es dort gibt."

Komische Reaktionen, meint Jörg Beißel, entstehen vor allem, weil die Menschen zu schlecht informiert sind. "Das Wissen ist oft irgendwo Ende der 1990er Jahre hängen geblieben." Und häufig schwinge eine moralische Verurteilung mit. "Da einer der Hauptübertragungswege der sexuelle ist, war HIV immer in der Schmuddelecke." Wer das Virus hat, steht bei manchem in Verdacht, ausschweifend zu leben, sich zu prostituieren oder Drogen zu nehmen. Jörg Beißel empfindet das als "Doppelt- und Dreifachstigmatisierung".

All dem, den Bildern von Krankheit und Tod, den irrationalen Ängsten, der moralischen Verurteilung, will er etwas entgegensetzen. "Wir wollen durch Aufklärung erreichen, dass die Leute anfangen, ihre Vorurteile zu hinterfragen."

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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