Heilbronner Raserprozess

Raserfahrt war Mord (Update)

Richter Alexander Lobmüller sieht alle Merkmale der Heimtücke erfüllt und verurteilt Yasin H. zu neun Jahren Haft.

23.08.2023 UPDATE: 22.04.2024 15:39 Uhr 27 Minuten, 20 Sekunden
Im „Raserprozess“ am Heilbronner Landgericht wurde das Urteil gesprochen: Der Angeklagte muss wegen Mordes für neun Jahre in Haft. Symbolfoto: Falk-Stéphane Dezort

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Ein Dreivierteljahr wurde vor dem Heilbronner Landgericht verhandelt, jetzt – binnen rund zwei Stunden und unter auffällig hohen Sicherheitsvorkehrungen – wurde das Urteil im "Raserprozess" gesprochen: Der Angeklagte Yasin H. wurde wegen Mordes und dreifachen Mordversuches nach dem Jugendstrafrecht zu neun Jahren Haft verurteilt.

Der vorsitzende Richter Alexander Lobmüller ging noch einmal ausführlich, sich auch im kleinsten Detail wiederholend, auf alle Aspekte, Fragen und Begründungen zur Tat und zum Urteil ein, so wie er es auch schon über die gesamte Prozessführung hinweg gehalten hatte. Dies mit Sicherheit auch deshalb, um der Verteidigung, die das Instrumentarium von neuen Zusatzanträgen reichlich bemühte, keinen Ansatzpunkt für eine Revision zu liefern. Es soll sie trotzdem geben.

Der Angeklagte nahm das Urteil weitgehend regungslos und stumm hin. Aniko S., die Frau des Getöteten, hatte Tränen in den Augen, als sie nach der zweistündigen Schlussverhandlung sagte: "Jetzt ist erst mal dieser Punkt vorbei." Revision hin oder her: Für sie und ihre Familie geht es in jedem Fall weiter, unter anderem mit der zivilrechtlichen Auseinandersetzung, und das heißt: Es geht dann auch um die wirtschaftliche Existenz der Familie.

Hintergrund

"Heimtücke" gilt als ein problematisches Mordmerkmal aus einer ganzen Gruppe von solchen. Sie trifft dann zu, wenn das Vorgehen des Täters besonders hinterhältig, verwerflich und gefährlich ist, wobei er die Art- und Wehrlosigkeit des Opfers in einem

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"Heimtücke" gilt als ein problematisches Mordmerkmal aus einer ganzen Gruppe von solchen. Sie trifft dann zu, wenn das Vorgehen des Täters besonders hinterhältig, verwerflich und gefährlich ist, wobei er die Art- und Wehrlosigkeit des Opfers in einem "Überraschungsangriff" ausnutzt, das sich bei einem so gearteten Angriff auch nicht wehren kann. Richter Lobmüller hat bei seinem Urteil den möglichen Strafrahmen nicht ganz ausgenutzt. Nach dem Jugendstrafrecht sind Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren möglich, im Falle einer Verurteilung von nach Jugendstrafrecht verurteilten Heranwachsenden können auch bis zu 15 Jahre verhängt werden. Anwalt Christoph Troßbach, er vertrat bei der Urteilsverkündung seine erkrankte Kollegin Elisabeth Unger-Schnell als Vertreterin von Aniko S., zeigte sich zufrieden damit, dass der Mordvorwurf, der H. von ihrer Seite her von Anfang an gemacht wurde, bestätigt wurde. Nun werde man sehen, wie es weiter geht. (bfk)

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Fast eine Viertelstunde brauchte Lobmüller, um allein die der Tat vorangegangenen Verkehrsvergehen von H. aufzuzählen. Dabei gab es neben Geschwindigkeitsüberschreitungen auch schon Verletzte und eine Fahrerflucht. Dazu fragt sich jeder, wieso hatte Yasin H. überhaupt noch einen Führerschein? Vielleicht, weil er sich – als Jugendlicher – bei entsprechenden Maßnahmen und Belehrungen immer wieder einsichtig gezeigt hatte, aber nie danach handelte. Der tödliche Unfall geschah nur zwei Wochen nach der letzten Belehrung. Eine prophetische Gabe schien jener Polizeibeamte gehabt zu haben, der ihn ermahnte, langsamer zu fahren, er würde "ungern Todesnachrichten überbringen".

Die Urteilsbegründung machte auch das angespannte Verhältnis von Yasin H. zur Wahrheit und zur Selbstwahrnehmung noch einmal deutlich. Entgegen den Darstellungen des Angeklagten fehlte er bei 300 Unterrichtsstunden in der Berufsschule, nahm auch längst nicht an allen Sitzungen des Jugendgemeinderates teil, bei den diversen Unfällen waren immer "die Anderen" schuld.

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Was ihn in gewisser Weise rettete – inzwischen ist er 21 Jahre alt – waren die Beurteilung nach dem Jugendstrafrecht sowie der gutachterlich attestierte mangelnde Reifegrad – auch wenn er den Realschulabschluss und einen IQ von 91 hat, den Lobmüller dem "unteren Mittelfeld" zuordnete. So sah er auch eine entsprechende Relevanz in der Schilderung, nach der H., der noch bei seinen Eltern lebt, von seiner Mutter im Schlaf zugedeckt wurde.

Das Eltern-Kind- beziehungsweise Mutter-Sohn-Verhältnis wurde vielfach thematisiert, durch richterliche Beweisanträge aber auch in ein anderes Licht gerückt. So hatte er elterliche Vorgaben nach Ausgang und Umgang doch nicht so stringent befolgt wie angegeben und seine deutsche Freundin verheimlicht. Bemerkenswert ist auch die wenig bemerkte Einlassung Lobmüllers in Bezug auf Yasin H.s Zukunft im Hinblick auf die Anwendung des Jugendstrafrechts. Es habe sich gezeigt, dass jugendliche Straftäter im Vollzug die Chance zu einer besseren charakterlichen Entwicklung haben, allerdings nur bei einer maximal fünfjährigen Haftzeit.

Staatsanwältin Christiane Triaa hatte ihre Anklage zunächst auf den Vorwurf "Totschlag" begrenzt, sie aber im Laufe der Verhandlung auf Mord erweitert, nicht zuletzt nachdem Lobmüller schon ziemlich früh einräumte, dass "es" auch Mord gewesen sein könnte. Von erheblicher Bedeutung ist und war, inwieweit das Mordmerkmal "Heimtücke" zutrifft, das von einer Arglosigkeit des Opfers ausgeht.

Für deren Begründung wurde Lobmüller sehr ausführlich, argumentierte vor allem mit der Tatsache, dass H. unmittelbar vor dem tödlichen Zusammenprall fast eine Fußgängerin auf einem Zebrastreifen überfahren hatte, danach nicht bremste, sondern "das Gaspedal bis zum Bodenblech durchdrückte". Zudem lag die Bremszeit vor dem Zusammenstoß im Bereich von Millisekunden, und H. kann die Straßenverhältnisse in der Wollhausstraße. Der Familienvater habe keine Chance gehabt, den Unfall zu verhindern.

Die Kosten für das Verfahren übernimmt die Staatskasse, das heißt auch für die ausgiebige Bestellung von Gutachtern, mit Ausnahme der für die "berechtigte", so Lobmüller, der Nebenklage, den Familienangehörigen des Opfers. Yasin H. wurde die Fahrerlaubnis entzogen, er kann sie frühestens in fünf Jahren beantragen. Das heißt, er könnte nach der Haftentlassung wieder hinter einem Steuer sitzen, aber auch, obwohl er deutscher Staatsbürger ist, in die Türkei abgeschoben werden.

Das "lebenslänglich" wegen Mord blieb dem Angeklagten erspart, für die Opferfamilie gilt das nicht. Sie wird "lebenslänglich" unter dem Verlust des Vaters leiden. Laura, die kleine Tochter, wird bei jedem Blick in den Spiegel eine Stirnnarbe an den sonnigen Sonntag im Februar 2023 und den Tod ihres Vaters erinnern. Wann und ob die Narben auf der Seele, die Traumata, unter denen alle leiden, heilen werden, kann niemand sagen.

Lobmüller zitierte in der Urteilsbegründung auch aus Briefen von H. aus der Untersuchungshaft, in denen er vom Unfall als "so ein Scheiß, der mir passierte" sprach und mehrfach seine Unschuld beteuerte. Während der vielen Prozesstage hatte er geschwiegen, erst nach dem Plädoyer seiner Verteidigerin Anke Stiefel-Bechdolf nach dem Recht für das "letzte Wort" sein Bedauern ausgedrückt. Unter anderem hatte er gesagt, dass es ihm leidtue und "kein Geld der Welt" den Vater zurückbringen könne. Aber um die Kategorie "Geld" ging es nicht, auch wenn man mitunter einen anderen Eindruck gewinnen konnte.

Update: Dienstag, 23. April 2024, 18.11 Uhr


21-Jähriger muss neun Jahre in Haft 

Von David Nau

Hatte der Angeklagte, hier mit seiner Verteidigerin Susanne Stiefel-Bechdolf, zur Zeitpunkt des tödlichen Unfalls bereits die geistige Reife eines Erwachsenen? Auch darum geht es beim Raser-Prozess. Foto: Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Ein damals 20-Jähriger rast mit seinem 300 PS starken Sportwagen im Februar 2023 durch eine Tempo-40-Zone in der Heilbronner Innenstadt, überfährt beinahe eine Fußgängerin und kracht kurze Zeit später mit fast 100 Kilometern pro Stunde in ein Auto, das aus einer Garageneinfahrt fährt. Der 42-jährige Autofahrer, ein Familienvater, stirbt noch am Unfallort, seine Ehefrau wird schwer verletzt, seine Kinder leicht. Monatelang hat das Heilbronner Landgericht den Unfall in allen Details aufgearbeitet, zahlreiche Zeugen und Experten angehört und ist am Montag zu dem Schluss gekommen, dass der Crash kein Unfall war, sondern Mord.

Die Zweite Große Jugendkammer sah das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt. Das Opfer habe nicht mit dem heranschießenden Raser rechnen können und sei arglos und auch wehrlos gewesen. Der Raser wiederum habe nicht damit rechnen können, dass seine Fahrt in der Innenstadt bei einer derart hohen Geschwindigkeit glimpflich ausgehen würde. Unter anderem wegen Mordes und versuchten Mordes in drei Fällen verurteilte das Landgericht den heute 21-Jährigen also zu einer Jugendstrafe von neun Jahren Haft. Außerdem muss er seinen Führerschein abgeben. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Nur kurz vor dem Aufprall hatte der als Temposünder bereits bekannte junge Autofahrer fast eine Fußgängerin überfahren, die gerade noch ausweichen konnte. Und trotzdem, so die Kammer, habe der Mann sein Auto weiter beschleunigt. "Er trat das Gaspedal bis zum Boden durch", sagte der Vorsitzende Richter während der Urteilsbegründung.

Verteidigung will Revision einlegen

Zwar habe er, als er das einfahrende Fahrzeug des 42-Jährigen gesehen habe, noch gebremst. Eine Verhinderung der Kollision sei wegen der hohen Geschwindigkeit aber nicht mehr möglich gewesen, so das Gericht. Das Bremsen ändere nichts, erklärte der Richter. "Wenn ich eine Pistole abfeuere und es mir anders überlege, nachdem die Kugel den Lauf verlassen hat, hilft das auch nichts mehr", sagte er.

Der 21-Jährige sei sich zudem bewusst gewesen, dass in der Straße in der Innenstadt bei hohen Geschwindigkeiten Unfälle mit Querverkehr drohten. Er sei nicht zurückgeblieben, sondern normal entwickelt. Zudem habe sich der Crash erst zwei Monate nach einem Aufbauseminar ereignet, bei welchem dem jungen Mann erklärt worden sei, wie sich der Bremsweg bei hohen Geschwindigkeiten verlängere.

In der ursprünglichen Anklage war selbst die Staatsanwaltschaft noch von Totschlag und versuchtem Totschlag ausgegangen, sie hatte sich aber im Laufe der Beweisaufnahme der Argumentation der Zweiten Großen Jugendkammer angeschlossen. Diese hatte ihrerseits den Hinweis erteilt, es könne sich auch um Mord und versuchten Mord handeln.

Illegale Autorennen gelten bereits seit Oktober 2017 als Straftat. Seitdem kann schon die Teilnahme mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet werden. Strafbar ist allerdings auch ein "Rennen gegen sich selbst". In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Mordanklagen nach Rasereien oder illegalen Autorennen gegeben.

Besonders bekannt wurde der Fall zweier Männer, die sich 2016 auf dem Berliner Ku’damm ein Rennen geliefert hatten, bei dem ein unbeteiligter Rentner starb. Hier wurde ein Fahrer wegen Mordes und der zweite Raser wegen versuchten Mordes verurteilt.

Für Schlagzeilen sorgte auch ein Prozess in Stuttgart vor vier Jahren: Ein damals 21-Jähriger hatte bei hoher Geschwindigkeit die Kontrolle über einen gemieteten Sportwagen verloren. Er kollidierte mit einem Kleinwagen, in dessen Trümmern zwei Menschen starben. Angeklagt war der junge Mann wegen Mordes, verurteilt wurde er zu fünf Jahren Jugendstrafe wegen Totschlags.

Die Verteidigerin des 21-Jährigen im Heilbronner Prozess kündigte an, Revision gegen das Mordurteil einlegen zu wollen. Man sei mit der rechtlichen Einschätzung des Gerichts nicht einverstanden. "Wir wollen, dass der Bundesgerichtshof dieses Verfahren überprüft", sagte sie. Bislang habe dieser noch keinen vergleichbaren Fall entschieden. Der Anwalt der Witwe des Getöteten sagte, das Urteil bringe den Familienvater nicht zurück. "Die Familie hat aber die Hoffnung, dass sich das Urteil herumspricht", sagte er. Und dass der Raser-Szene klar werde, dass es sich bei solchen Taten nicht um Unfälle, sondern um Mord handle.

Update: Montag, 22. April 2024, 19.35 Uhr


Für die Staatsanwaltschaft ist es nun doch Mord

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Erst ging es noch lange um unsichtbare Gorillas und Gully-Deckel, dann wurde es wirklich ernst, denn mit dem Plädoyer von Staatsanwältin Christiane Triaa stand das Wort "Mord" im Raum. Es hatte auch nicht mehr geholfen, dass die Verteidigung des Angeklagten Yasin H. im Heilbronner "Raserprozess" noch ein Ad-hoc-Gutachten erreicht hatte, in dem es darum gehen sollte, wie und ob der Angeklagte visuell und kognitiv die Gefahrensituation wahrnehmen konnte.

Gutachter Professor Hans-Otto Karnath von der Sektion für Neuropsychologie, Schwerpunkt "Kognitive Neurologie", der Uni Tübingen musste über eine Stunde hinweg den Unterschied zwischen Sehen und Wahrnehmen erläutern, wie sich dieser innerhalb von Millisekunden im Gehirn abspielt und ob und wie "blinde Flecken" in der Wahrnehmung entstehen, so wie es Youtube-Videos anhand von Beispielen mit Gorillas und Gullydeckeln vorführen. Am Ende dankte der Vorsitzende Richter Alexander Lobmüller für das erste Semester Neurobiologie und beendete nach 17 Verhandlungstagen um 15.11 Uhr die Beweisaufnahme, bevor es dann wirklich ernst und mit den ersten beiden Plädoyers die Frage beantwortet wurde: Worum geht es hier wirklich und eigentlich? Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft geht es um Mord.

In ihrer Anklageschrift hatte sie diese Einordnung noch nicht berücksichtigen wollen, nun aber habe die Beweisaufnahme gezeigt, sagte die Staatsanwältin, dass für das Handeln von Yasin H. auch das Mordmerkmal Tötungsabsicht erkennbar sei. Nachdem man zunächst von Totschlag und versuchtem Totschlag ausgegangen war, ging es damit jetzt um Mord in einem Fall – an dem noch an der Unfallstelle in der Wollhausstraße getöteten Familienvater – und um versuchten Mord in drei Fällen an der Mutter und den beiden kleinen Kindern sowie um gefährliche Körperverletzung – zu beurteilen noch nach dem Jugendstrafrecht. Yasin H. war am Tag des Unfalls, dem 12. Februar 2023, noch 20 Jahre alt. Die Staatsanwältin forderte deshalb ein Strafmaß von neun Jahren Haft. Damit habe der Angeklagte dann auch eine Entwicklungschance. Das psychologische Gutachten hatte H. einen unterdurchschnittlichen Reifegrad und eine ebensolche Intelligenz bescheinigt.

Allein die jeweilige Verlesung von H.s Verkehrsvergehen und deren Umständen in den Plädoyers der Staatsanwältin wie auch von Anwältin Elisabeth Unger-Schnell, Anwältin der Nebenklage, also der Witwe und der beiden Kinder, summierte sich fast zu einer Stunde. Entscheidend für die Tatbeurteilung war nicht nur diese lange Liste und der eigentliche Unfall, sondern die Aussage einer Zeugin, die von Yasin H. unmittelbar vor dem tödlichen Crash beinahe überfahren worden wäre: auf dem Zebrastreifen, von dem sie sich nur noch rennend retten konnte. H. habe da nicht etwa gebremst, sondern einen Schlenker gemacht und dann noch mehr Gas gegeben, bis er dann, nur 70 Meter entfernt, den Unfall verursachte – laut Gutachter in einer Geschwindigkeit von 97 bis 112 Stundenkilometern. H. habe die Straße mit Tempo 40 und die dortigen Verkehrsverhältnisse gekannt, wird ihm vorgeworfen.

Mehrfach betonte Unger-Schnell, das einzige Ziel von H. sei es gewesen, die Höchstgeschwindigkeit zu erreichen. Sie wirft ihm ebenfalls vor, zunächst die eigene Schuld bestritten und dabei auch gelogen zu haben, belegt durch Zitate aus Briefen und Passagen aus ersten Vernehmungsprotokollen.

Detailliert schilderte die Anwältin der Nebenklage noch einmal die schwerwiegenden Folgen für die junge Familie: die gesundheitlichen Schäden – körperliche und lebenslange Traumata – und auch die wirtschaftlichen. Besonders kritisiert sie dabei auch den "Entschuldigungsbrief" als unglaubwürdig in Form, Inhalt und Vortrag. Auch die darin angestrebte Darstellung von H. als Muttersöhnchen und entsprechenden Abhängigkeiten ließ sie nicht gelten. Dass dem nicht so gewesen sei, belegten Kontobewegungen und nachweisbare Verstöße gegen elterliche Ausgehvorschriften oder auch die verheimlichte deutsche Freundin.

Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft sah Unger-Schnell in H.s Handeln nicht nur ein, sondern zwei Mordmerkmale als gegeben an: neben der Tötungsabsicht auch die Arglosigkeit der Opfer. Ihre Forderung: Ein Urteil nach dem Erwachsenenstrafrecht und lebenslange Haft.

Wie immer zeigte der Angeklagte H. kaum eine Regung. Richter Lobmüller kündigte für den 10. April die noch ausstehenden Plädoyers der Nebenklage und der Verteidigung von H. an und die Urteilsverkündigung, "nach derzeitigem Stand", für den 16. April.

Update: Donnerstag, 21. März 2024, 19.22 Uhr


Prozess nähert sich dem Ende - Plädoyers möglich

Heilbronn. (dpa) Sieben Monate nach dem Prozessbeginn steht der sogenannte Heilbronner Raserprozess um einen tödlichen Autounfall kurz vor dem Ende der Beweisaufnahme. Bei der Verhandlung am Montag vor dem Landgericht könnten die Plädoyers der Staatsanwaltschaft, der Nebenkläger und der Verteidigung beginnen. Diese dürften sich über mindestens zwei Tage hinziehen. Unklar ist daher, wann ein Urteil gesprochen wird. 

Der angeklagte 21-Jährige soll im Februar vergangenen Jahres mitten in der Heilbronner Innenstadt so stark auf das Gaspedal getreten haben, dass er die Kontrolle über seinen 300 PS starken Sportwagen verlor. In der Tempo-40-Zone raste er mit rund 100 Stundenkilometern in das Auto eines 42-Jährigen, als dieser mit seiner Familie aus einer Ausfahrt fahren wollte. Der Mann starb in den Trümmern seines Wagens, seine Frau wurde schwer, die beiden Kinder leicht verletzt. Auch der Angeklagte und seine Beifahrerin erlitten leichte Verletzungen.

Die Staatsanwaltschaft geht von Totschlag und dreifachem versuchten Totschlag aus. 

Die Kammer hat die Anklageerhebung aber verschärft. Sie will nach Angaben des Richters prüfen, ob auch ein Mordvorwurf infrage kommen könnte. Umstritten ist auch weiterhin, ob der Angeklagte nach Jugendstrafrecht verurteilt werden sollte. 

Update: Montag, 18. März 2024, 8.35 Uhr


Zahlreiche Anträge verzögern den Prozess

Heilbronn. (dpa/lsw) Nach zahlreichen Anträgen, umstrittenen Gutachten und einer erweiterten Zeugenliste wird sich der Heilbronner Raser-Prozess wegen eines tödlichen Unfalls wahrscheinlich bis in den April hinein verzögern. Eigentlich sollten Staatsanwaltschaft und Verteidigung bereits am Freitag plädieren, für Ende kommender Woche war das Urteil erwartet worden. Damit sei nicht mehr zu rechnen, teilte das Landgericht am Donnerstag mit. Die Verteidigerin des angeklagten jungen Mannes hatte am Tag zuvor weitere Zeugen angekündigt, die nun erst geladen werden. 

Im vergangenen Februar soll der damals 20-Jährige mitten in der Heilbronner Innenstadt so stark auf das Gaspedal getreten haben, dass er die Kontrolle über seinen 300 PS starken Sportwagen verlor. In der Tempo-40-Zone raste er mit rund 100 Stundenkilometern in das Auto eines 42-Jährigen, als dieser mit seiner Familie aus einer Ausfahrt fahren wollte. Der Mann starb in den Trümmern seines Wagens, seine Frau wurde schwer, die beiden Kinder leicht verletzt. Auch der Angeklagte und seine ein Jahr jüngere Beifahrerin erlitten leichte Verletzungen.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hat der junge Mann das Risiko bewusst akzeptiert, die Gefahr aber "billigend in Kauf" genommen. Allerdings schließt die Große Jugendkammer auch weiterhin nicht aus, dass der mutmaßliche Raser noch härter bestraft werden könnte. Es wird nach Angaben des Richters geprüft, ob in diesem Fall auch ein Mordvorwurf infrage kommen könnte. Umstritten ist auch weiterhin, ob der Angeklagte nach Jugendstrafrecht verurteilt werden sollte. 

Illegale Autorennen gelten bereits seit Oktober 2017 als Straftat. Seitdem kann schon die Teilnahme mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet werden. Strafbar ist allerdings auch ein "Rennen gegen sich selbst". Der Paragraf 315d sieht zudem bis zu zehn Jahre Haft vor, wenn der Tod oder eine schwere Gesundheitsschädigung eines anderen Menschen durch ein "verbotenes Kraftfahrzeugrennen" verursacht wird.

Update: Donnerstag, 8. Februar 2024, 12.20 Uhr


Kind als Opfer und "Jugendlicher" als Täter?

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Der 13. Verhandlungstag im "Raser-Prozess" fing nicht gut an: Auf 9 Uhr terminiert, eröffnete der Vorsitzende Richter Alexander Lobmüller die Sitzung erst eineinhalb Stunden später. Die Infos zur Verzögerung erfolgten genauso zögerlich, immerhin erfuhr man es dann doch: Eine geladene Zeugin hatte sich krankgemeldet, und dieser Absage ging man erst einmal in Telefonaten mit dem Arzt nach.

Die spätere Bemerkung von Lobmüller, man könne eventuell ganz auf deren Aussage verzichten, zeigte auch: Bei Gericht gehen auch die Uhren anders. Eigentlich hat noch kein Prozesstag pünktlich begonnen, die Verteidigung des Angeklagten H. kommt grundsätzlich ein paar Minuten zu spät.

Das sichert stets einen Auftritt vor Publikum und der "schwarz gekleideten Meute", als die Anke Stiefel-Bechdolf die Witwe des getöteten Unfallopfers, dessen Mutter und Geschwister und deren Anwälte (für die Nebenklage) in einem Medienauftritt bezeichnet hatte, der mitten hinein in das laufende Verfahren platziert wurde.

Hintergrund

Raser-Unfälle mit tödlichem Ausgang und auch einer Verurteilung wegen Mordes sind nicht selten. Interessant dazu war ein Fall in München 2019, bei dem es ebenfalls um die Bewertung "Mord" oder "Totschlag" ging. Der Anwalt des Opfers hatte damals diesen Vergleich gebracht: Wer

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Raser-Unfälle mit tödlichem Ausgang und auch einer Verurteilung wegen Mordes sind nicht selten. Interessant dazu war ein Fall in München 2019, bei dem es ebenfalls um die Bewertung "Mord" oder "Totschlag" ging. Der Anwalt des Opfers hatte damals diesen Vergleich gebracht: Wer auf dem Oktoberfest mit einem abgebrochenen Maßkrug auf seinen Kontrahenten losgeht, der muss und kann wissen, dass er ihn damit umbringen kann. Auch wenn das nicht seine Absicht ist, kann ihm dann eine Mord-Anklage drohen." Ein Auto, das mit so überhöhter Geschwindigkeit durch die Wollhausstraße rast, lässt sich mit einem "abgebrochenen Maßkrug" vergleichen. Ähnlich an dem Fall ist, dass auch dieser Raser damals unmittelbar vor dem tödlichen Unfall einen anderen gerade noch verhindern konnte, so wie auch H. in der Wollhausstraße. Ulrich Nowak, Fachanwalt für Verkehrs- und für Strafrecht in München, von dem der Vergleich stammt, sagte damals noch dazu: "Da hätte er (also der Münchner Angeklagte) merken können, dass das gefährlich ist, was er tut. Dass er dennoch weitergefahren ist, könnte für den Vorsatz sprechen." (bfk)

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Auch in der öffentlichen Wahrnehmung hat sich dieses Verfahren nicht totgelaufen, selbst wenn zum ersten Verhandlungstag im neuen Jahr etwas weniger Zuschauer kamen. Der tödliche Unfall hatte sich bekanntlich vor fast einem Jahr ereignet: Der junge Angeklagte H. war am 12. Februar 2023 hochmotorisiert mit etwa Tempo 100 durch die Heilbronner Wollhausstraße gerast und dann mit dem Auto kollidiert, in dem die Familie S. saß. Der Vater war auf der Stelle tot, die Mutter und die beiden Kinder wurden teils schwer verletzt.

In besagtem Medienauftritt sprach H.s Verteidigerin Stiefel-Bechdolf von einer Geschwindigkeitsübertretung, die Staatsanwaltschaft klagte auf Totschlag, das Landgericht erweiterte den Beurteilungsrahmen auf möglichen Mord. Das setzt voraus, dass dafür entsprechende Tatmerkmale vorliegen müssen, etwa Heimtücke oder die Ausnutzung der Arglosigkeit des Opfers. Eine Rolle spielt auch das Alter des Angeklagten: Zur Tatzeit war H. 20 Jahre alt, deshalb findet der Prozess vor der Großen Jugendstrafkammer statt.

Eines der Gutachten befasst sich mit der "geistigen Reife" von H. Es wurde von der Verteidigerin angefordert und nach deren Wunsch auch von dem Tübinger Professor Michael Günther erstellt. Es liegt jetzt vor, ist für die Öffentlichkeit aber nicht einsehbar. Der beabsichtigte Zweck war, dass für H. als Heranwachsender noch das Jugendstrafrecht gelten soll, belegt unter anderem durch eine "kindliche Bindung an die Eltern". Dieser Eindruck ergab sich aus der Wortwahl "Mama" und "Papa", die H. bei der Befragung durch die Heilbronner Jugendgerichtshilfe gewählt hatte.

Tanja Haberzettl-Prach, Vertreterin in der Nebenklage, kommentierte beziehungsweise korrigierte diesen Eindruck dann auch damit, dass sie darauf verwies, es sei in türkischen Familien durchaus üblich, dass die Söhne bis zur Heirat bei den Eltern wohnen und dieser Umstand nicht nur als Zeichen von Unreife gesehen werden kann.

Was Lobmüller anschließend anführte, ist auch in Fortsetzung von Äußerungen zu sehen, die schon mehrfach im Prozessverlauf von ihm und auch von der Anwältin der Witwe und Nebenklägerin, Elisabeth Unger-Schnell, gefallen sind: Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Aktuelle Beispiele führte Lobmüller jetzt vor dem Hintergrund des Günther-Gutachtens an.

So habe H. angegeben, als gewählter Jugendgemeinderat an allen Sitzungen teilgenommen zu haben, die Protokolle zeigten hingegen, dass er bei einigen gefehlt habe. Dabei fiel auch die Feststellung, er habe "Geschichten aufgetischt" und daran erinnert, dass im Laufe der vorangegangenen Prozesstage klar geworden sei, dass H. zu seinen früheren Verkehrsdelikten, einschließlich eines Unfalls, die Unwahrheit gesagt oder die Wahrheit verschwiegen hatte. Das betraf auch seine finanzielle Situation: Auf dem Konto des Lehrlings, sagt Lobmüller, hätten zahlreiche Kontobewegungen mit erheblichen Summen stattgefunden.

Um Kindsein und Kindlichkeit ging es auch bei der Befragung der Zeugin M. Sie war etwa ein Jahr lang die Kita-Erzieherin des kleinen Sohnes E. der Familie S. Am Unfalltag war er noch drei Jahre alt, der vierte Geburtstag fand dann im Krankenhaus statt. Die folgende Befragung, so informierte Lobmüller die Zeugin vorab, könne sie befremden.

Deren Ziel war auch, nachdem schon seine ältere Schwester gehört worden war, festzustellen, welche Schäden, über körperliche Verletzungen hinaus, die Kinder davongetragen haben. Das wird bei dem mit Gewissheit folgenden Zivilprozess gegen H., wenn es um Schadensersatzansprüche geht, von Belang sein.

Auch wenn das Wort "Trauma" nicht fiel, es ging letztlich auch um diese mögliche Folge des Unfalls. Der RNZ gegenüber hatte die Mutter von E. erzählt, das Kind bestreite, dass Papa nicht wiederkomme, und halte sich unablässig an einem Pullover von ihm fest – fast so wie an einem Stofftier.

Das Ergebnis der langen Befragung der Zeugin M. konnte auch durch Nachhaken des Gutachters in der Substanz nicht geändert werden. Sie schilderte, soweit es ihr als alleinige Betreuerin von 22 Kindern der Gruppe möglich war, dass E. eine normale, altersentsprechende Entwicklung zeigte, er als ruhiges Kind stabil und leicht zu lenken war, aber auch eigene Wünsche artikulierte ("Spielen in der Bauecke").

Seine soziale Kompetenz und Motorik bezeichnete M. als ganz normal. Abgeholt oder gebracht wurde er entweder von Mama oder Papa. Bei allem Nachbohren vom Richtertisch, durch den Gutachter und die Verteidigung blieb sie bei ihrer Darstellung, auch für gewisse, von ihr als offenbar nicht gravierend erkannte Verhaltensveränderungen. Für eine Mutter war es sicher nicht leicht zu hören, wie ihr Kind hier quasi auseinandergenommen wurde, als habe es keine Persönlichkeitsrechte.

"Nur ein Puzzle-Teil" nannte Richter Lobmüller die Ergebnisse der Prüfung von Anträgen zur Tat von H., hinsichtlich deren Bewertung und Einordnung nach Merkmalen von Totschlag oder Mord. Als entscheidender Punkt zeigt sich, dass ein Automatismus abgelehnt wird, der von der Zugehörigkeit zur "Poser-Szene" auf die Raser-Szene schließen lässt und ebenfalls nicht auf die "Affinität zu schnellen Autos".

Diese Problematik ist nicht nur vielen Paragrafen, sondern in noch viel mehr Kommentaren dazu behandelt. Zu berücksichtigen ist danach auch, inwieweit sich frühere Verkehrsdelikte, die es auch bei H. gab, warnend oder eben nicht auf das weitere Fahrverhalten auswirkten, und ob durch fehlendes "Abwägen" beim Fahren eine Tötungsabsicht erkennbar geworden sei. Die Verlesung dieser Prüfergebnisse dauerte annähernd eine Stunde, das spricht für die Gründlichkeit der Prüfung und die Schwierigkeit in der Bewertung. 

Mehr illegale Autorennen

Nach einer jüngsten Pressemeldung des Landesinnenministeriums nehmen die illegalen Autorennen auf den Straßen des Landes immer mehr zu, auf der A 81 waren es sogar mehr Rennen als auf jeder anderen Bundesautobahn – trotz härterer Strafen und Gerichtsurteile. Im ersten Halbjahr 2023 wurden 207 illegale Autorennen registriert, im Vergleich zum Vorjahr 19 Prozent mehr. Diesen Anstieg erklärt das Ministerium unter anderem damit, dass Raser inzwischen intensiver verfolgt werden, auch juristisch.

Illegale Autorennen gelten rechtlich seit 2017 als Straftat, nicht mehr nur als "Vergehen". Immer häufiger werden – außer den Rennen unter Kontrahenten – die Fluchten vor der Polizei und Einzelrennen als "Rennen gegen sich selbst" gewertet. Diese spontanen Rennen sind besonders häufig. Innenminister Thomas Strobl sprach sich schon vor einigen Jahren für härtere Bestrafungen von Rasern aus.

Update: Dienstag, 9. Januar 2024, 18.40 Uhr


Freunde beschreiben Angeklagten als "guten Jungen"

Von Brigitte Fritz-Kador

Am vierten Verhandlungstag um den tödlichen Unfall in der Wollhausstraße ging es auch um die Geschwindigkeit, die der Angeklagte vor und zum Zeitpunkt des Zusammenpralls in der 40er-Zone gefahren war. Foto: 7aktuell/D. Walter

Heilbronn. Zwei Freunde des Angeklagten Yasin H. sagen am achten Verhandlungstag des "Raserprozesses" aus, und das geht über zwei Stunden. Ihr wesentlicher und wiederholter Beitrag ist dieser: "Er ist ein guter Junge!" Der "gute Junge" hat mit etwa 100 Stundenkilometer auf dem Tacho in der Wollhausstraße – dort ist Tempo 40 erlaubt – einen Familienvater totgefahren, eine Mutter schwer verletzt und zwei kleine Kinder verletzt und nachhaltig verstört.

An den zwei Verhandlungstagen zuvor waren Polizisten als Zeugen befragt worden und ein Cousin. Auch dieser kannte den 21 Jahre alten Yasin H. angeblich nicht so genau, aber doch nur "als guten Jungen". Das brachte dann den Vorsitzenden Richter Andreas Lobmüller dazu, ihm, wie auch schon der Freundin des Angeklagten, mit Erzwingshaft zu drohen, um ihn an seine Pflichten als Zeuge zu erinnern. Die Witwe des Getöteten, Aniko S., seine Mutter und Geschwister müssen das alles anhören. Ihnen gilt kein Wort des Bedauerns und auch kein Blick.

Hintergrund

> Wie sehr eine türkischstämmige Community hinter dem Angeklagten H. steht, diese Frage steht immer auch im Gerichtssaal. Hierzu ist noch nicht erschöpfend nachgehakt worden, aber, wie es sich aus andeutenden Fragen von Lobmüller ergibt, ist es zu erwarten. Es geht um H.s

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> Wie sehr eine türkischstämmige Community hinter dem Angeklagten H. steht, diese Frage steht immer auch im Gerichtssaal. Hierzu ist noch nicht erschöpfend nachgehakt worden, aber, wie es sich aus andeutenden Fragen von Lobmüller ergibt, ist es zu erwarten. Es geht um H.s zweijährige Zugehörigkeit zum Jugendgemeinderat der Stadt. Er und zwei weitere türkischstämmige junge Heilbronner waren 2020 mit den höchsten Stimmenzahlen in den Jugendgemeinderat gewählt worden, H. selber war "Stimmenkönig" mit 1623 Stimmen. (bfk)

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Lobmüllers Strategie für den Prozess ist bisher diese: So weit als möglich alle Details und technische Daten abfragen und sammeln, um das Unfallgeschehen "richtig" zu sehen und mit der Erforschung des Umfeldes auch die Persönlichkeit des Angeklagten zu beleuchten. Denn immer noch geht es darum, ob er nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wird – er war bei dem Unfall 20 Jahre alt – und noch die "kindliche Person" war, wie es die Verteidigung durch ein psychiatrisches Gutachten nachweisen lassen möchte; zwei Fachleute dafür verfolgen die Verhandlungen.

Die Zeugenaussagen der Polizisten sind sachlich. Nicht immer ist ihnen noch jedes Detail in Erinnerung, das gilt auch für die Aussagen zu den Nachermittlungen, die Lobmüller angeordnet hat, deren Zweck und Umfang nur indirekt erkennbar werden.

Auf RNZ-Nachfrage dazu, verwies die Sprecherin der Staatsanwaltschaft auf die Kammer des Landgerichts. Deren Sprecher wiederum sagte, er werde sich über die Fragen informieren (beispielsweise zum Umgang mit den Handys von Yasin H. und seiner Freundin und Beifahrerin Romy W.), aber der Sachverhalt würde wohl dem Beratungsgeheimnis unterliegen. Diese Fragen waren im Folgenden dann doch auch Gegenstand der richterlichen Befragung der Polizisten wie auch später der Freunde des Angeklagten.

Die RNZ hatte schon früh darüber berichtet, dass der Angeklagte und seine Freundin nach dem Unfall gemeinsam in einem Zimmer der SLK-Klinik am Gesundbrunnen zur Beobachtung untergebracht waren und dort offenbar ihre Handy-Daten löschten. Ihre Smartphones wurden erst einige Zeit später eingezogen und inzwischen von der zuständigen Stelle der Verkehrspolizei in Weinsberg untersucht.

Der damit befasste und dafür geschulte Polizeibeamte macht in seiner Vernehmung deutlich, hierbei immer nur so weit gegangen zu sein, wie die Anordnung lautete. Das aber geschah, so wird es auf Nachfragen Lobmüllers auch ersichtlich, nicht in letzter Konsequenz. Wer weiß, wie im Polizeipräsidium Heilbronn das Sonderermittlungsteam "Hydra" (Aufklärung von Fällen der Kinderpornografie) arbeitet, mit welcher Schulung, Kenntnis, mit welchem Aufwand und Erfolg dort Daten gesucht und rekonstruiert werden, muss sich fragen, warum dies nicht auch in einem Fall so gehandhabt wurde, in dem ein Mensch zu Tode kam?

Immerhin wird aus den mühsamen gewonnenen Aussagen der Freunde dann doch klar, dass auf einem der Handys ein Rap-Video zu sehen war. Es wurde im Januar gedreht; der Unfall ereignete sich am 12. Februar. Zu sehen war auch der BMW des Angeklagten. Wer den Wagen gefahren hat und dabei "gedriftet" ist, und mit wem auf dem Beifahrersitz, das ist jedoch dem Gedächtnis entschwunden.

Verschwunden dagegen war auch der Führerschein des Angeklagten, die Polizei hatte ihn jedenfalls nicht beim Unfall eingezogen und auch später nicht. H. hatte bei einer ersten polizeilichen Vernehmung gesagt, er könne noch im Auto oder bei der Freundin sein. Bei dieser war er dann auch, und so kann ihn H.s Verteidigerin Anke Stiefel-Bechdolf mit triumphierender Gestik Richter Lobmüller überreichen.

Emotionen sind das eine, sachliche Fragen das andere. Warum hat die Verkehrspolizei angesichts der sofort erkennbaren Schwere und wohl auch Ursache des Unfalls den Unfallort nicht auch als Tatort behandelt? Bei einem Aufprall mit maximal 40 Stundenkilometern stirbt selten ein Mensch, entsteht kein Totalschaden. Warum konnten H. und seine Freundin in Blitzgeschwindigkeit Freunde und Verwandte alarmieren und herbeirufen, von denen sie dann im Krankenhaus mit Kleidung und Essen versorgt wurden, und die dann wohl auch noch heftig mit ihren Smartphones beschäftigt waren?

Übereinstimmend erzählen die Freunde, dass über Social Media schon unmittelbar nach dem Unfall Drohungen und Erpressungsversuche an H. adressiert und verbreitet wurden. Dafür war ihm das Mitgefühl seiner Freunde sicher: Er habe unter Schock gestanden und etwas aufgeheitert werden müssen.

Im Gleichklang wird auch davon berichtet, dass der sonst immer so Hilfsbereite von seinem Elternhaus nicht alle Freiheiten erhalten habe, auch in Bezug auf die Ausgehzeiten. Beim Vorhalt von Richter Lobmüller, dass sich auch noch spätere Imbissbesuche auf Konten nachweisen lassen, bleibt es nicht. Die Kontoauszüge zeigen auch gegenseitige Geldüberweisungen in Größenordnungen, die durch Ausbildungsvergütungen nicht zu decken sind. Als Erklärung dazu kommt nur das Wort "Freundschaftsdienst". Der Eindruck, dass die beiden Freunde vor ihrer Zeugenaussage speziell dafür gecoacht wurden, verstärkt sich in ihrer gewählten "höheren" Ausdrucksweise, in der sie sich dann doch auch sprachlich verhakten.

Info: Bis zum Jahresende sind noch mehrere Prozesstage angesetzt, weitere folgen im Januar, derzeit wird nicht vor April mit einem Urteil gerechnet.

Update: Donnerstag, 2. November 2023, 17.25 Uhr


Millisekunden und Morddrohungen

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Bei einem weiteren langen Prozesstag im Heilbronner Raser-Prozess ging es wieder ins Detail und um Details: diesmal um Millisekunden und nicht, wie zuvor, um Millimeter. Zwei Sachverständige stellten Messwerte bis in diese allerkleinsten Größenordnungen hinein dar.

Messwerte für Emotionen, so wie sie an diesem Prozesstag vorwiegend negativ zutage traten, gibt es nicht, es sei denn, man nimmt den Grad der Höflichkeit zum Maßstab, mit der sich Prozessgegner begegneten.

Hintergrund

Ein weiterer "Raser-Prozess" fand – zwei Tage vor dem vierten Prozesstag im Verfahren gegen H. – am Amtsgericht Heilbronn statt. Auf der Anklagebank saß der jüngere Bruder von H. Ihm und einem weiteren Angeklagten wurden mehrere massive

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Ein weiterer "Raser-Prozess" fand – zwei Tage vor dem vierten Prozesstag im Verfahren gegen H. – am Amtsgericht Heilbronn statt. Auf der Anklagebank saß der jüngere Bruder von H. Ihm und einem weiteren Angeklagten wurden mehrere massive Geschwindigkeitsverstöße vorgeworfen, begangen unter anderem mit verschiedenen Fahrzeugen der Marke Audi.

Es ging um Rennen, bei denen innerhalb und außerhalb der Stadt Heilbronn sehr hohe Geschwindigkeiten gefahren und von der Polizei auch gemessen wurden. Unter anderem soll der Angeklagte, also der jüngere H. am 20. Juni 2022 um 5.42 Uhr auf der Bundesstraße 27 von Neckarsulm in Fahrtrichtung Heilbronn mit einem Audi S 8 phasenweise 230 km/h schnell gefahren sein, obwohl dort lediglich Tempo 100 erlaubt ist.

Er wurde zu zwei Jugendarresten und einer Geldbuße verurteilt und darf eineinhalb Jahre lang kein Auto mehr selbst fahren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. (bfk)

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Die Auswertung verschiedener Daten sollte Gewissheit darüber bringen, wie schnell der Angeklagte mit dem BMW unterwegs war und ob und wie das Fahrzeug abgebremst wurde. Am Ende der nahezu zweistündigen Physikstunde, zu der der Vorsitzende Richter Andreas Lobmüller die Zeugenbefragung gemacht hatte, war nur eines klar: Der Angeklagten Yasin H. war in der 40er-Zone zwischen 97 und 106 km/h schnell gefahren.

Eine weitere Frage galt dem Punkt "Ölstand", denn die Freundin des Angeklagten hatte in ihrer Vernehmung angegeben, man sei am Unfalltag losgefahren, um Öl nachzufüllen. Am Ende blieb es dabei: Selbst hochkomplexe Mess-Systeme können den Ölstand nicht lückenlos dokumentieren.

Millisekunden spielten bei anderen Messwerten immer eine Rolle. Einer der Sachverständigen machte diese Zeitspanne so greifbar: Zehn Millisekunden sind ein Wimpernschlag. Die hier ermittelten Daten werden mit Sicherheit auch in den folgenden Zivilprozessen eine Rolle spielen. Dann geht es um Bewertung und Bewältigung der materiellen Schäden.

Auch in den Aussagen von zwei Ärzten zum Unfallgeschehen zeigte sich, dass es nur wenige Sekunden brauchte, um den sofortigen Tod des Vaters der Familie S. festzustellen. Der fünf Minuten nach dem Unfall eintreffende Notarzt stellte sofort dessen Tod fest: "Keine Atmung, kein Herzschlag, EKG eindeutig null."

Der Arzt, der später die Todesursache feststellte, kam zu keinem anderen Schluss: Es gab kaum äußere Verletzungen, aber sonst alle Anzeichen für einen sehr schnellen Tod durch inneres Verbluten. Wenige Wochen nach dem Unfall habe ihn die Witwe Aniko S. angerufen und gefragt, ob ihr Mann habe leiden müssen. Die Antwort war: "Nein!" So sachlich vorgetragen dies auch war, die emotionale Belastung solcher Aussagen ist für die Hinterbliebenen groß.

Groß aufgetragen waren die Emotionen in einer ganz andern Sache, als Anke Stiefel-Bechdolf, die Verteidigerin von H., ihren Auftritt mit den Worten begann, sie selber sei ja "Hass und Häme gewohnt, das mache ihr nichts mehr aus", ihr ging es um Aspekte in der medialen Berichterstattung. Diese fand tatsächlich in großem Umfang und teils mit zweifelhaftem Duktus statt. Unter den daraufhin erfolgten Hass-Mails gegen den Angeklagten waren auch Todesdrohungen wie diese: Man habe schon "Albaner" für ihn. Stiefel-Bechdolf will die Verfasser anzeigen.

Der unausgesprochene, jedoch atmosphärisch spürbare Vorwurf, diese Hass-Posts könnten etwas mit dem Umfeld der Unfallopfer zu tun haben, stand im Raum. Der Umgangston der Verteidigerin war dann auch bei einem weiteren Thema so, dass man sich hier auch einen Ordnungsruf von der Richterbank hätte vorstellen können.

Sie bezichtigte Elisabeth Unger-Schnell, die Anwältin von Aniko S., in Bezug auf das Zitat des Angeklagten, "er sei unschuldig", die Unwahrheit gesagt zu haben. Tatsächlich hatte Richter Lobmüller am zweiten Prozesstag zwei konfiszierte Briefe von H. vorgelesen, in denen dieser zweifach und wörtlich äußerste: "Ich bin unschuldig!" Eine solche Aussage will auch eine der Zeuginnen des Unfallgeschehens gehört haben.

Dass eine andere Zeugin ihre Tochter nicht mehr alleine und ohne Schutz das Haus verlassen lässt, war dabei ebenfalls geäußert worden. Auch die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen und Kontrollen vor und im Gericht an den Verhandlungstagen sind unübersehbar.

Der bisherige Prozessverlauf ist so, dass es wenig Entlastendes für den Angeklagten gibt. Dass er zum Unfallzeitpunkt 20 Jahre alt war und als Heranwachsender gilt, ist von entscheidender Bedeutung für das Strafmaß und dafür, ob nach dem Jugendstrafrecht und der dann angewandten Kriterien "Mord" oder "Totschlag" geurteilt wird.

Schon beim Vortrag der Vertreterin der Jugendhilfe Heilbronn, am zweiten Prozesstag, die H. dreimal befragt hatte, war der Eindruck entstanden, es könne eine Rolle spielen, wie man ihn von Alter und der Reife her beurteilt.

Ob die bisher fehlenden Äußerungen von Reue und Einsicht in seine Tat und deren Folgen nach ein paar Monaten hin oder her den Ausschlag geben, oder die Ursachen für das gesamte Verhalten tiefer liegen, zu dieser Klärung hätte man schon bei Prozessbeginn mit psychiatrischen Gutachten antreten oder sie verlangen können, um H.s Reifegrad zu ergründen.

Das hat Stiefel-Bechdolf jetzt vor und den entsprechenden Antrag gestellt. Minutenlang begründete sie diesen, nannte auch eine Reihe prominente Psychiater dafür, musste dann aber auf Nachfrage Lobmüllers einräumen, dass sie nicht wisse, ob diese zeitlich überhaupt für ein Gutachten einsetzbar wären. Auf Lobmüller zweite Frage dazu, ob sich der Angeklagte dann auch befragen lassen würde, kam ein eindeutiges "Ja".

Update: Donnerstag, 21. September 2023, 16.40 Uhr


Opfer sind auch die Menschen, die nicht körperlich zu Schaden kommen, sondern einen wirtschaftlichen Schaden durch Raser erleiden, wie die Bewohner dieses Hauses in Heilbronn. Foto: Brigitte Fritz-Kador

Gelöschte Handydaten machen Richter misstrauisch

Im Prozess wurde am dritten Prozesstag auch millimetergenau auf den Unfallhergang eingegangen.

Heilbronn. (bfk) Mord und Totschlag sind Kapitalverbrechen. Auf welches von den beiden es beim sogenannten "Raserprozess" hinausläuft, der derzeit vor der Großen Jugendstrafkammer des Heilbronner Landgerichts verhandelt wird, ist noch offen.

Aber: Ob Mord oder Totschlag, die Ermittlungen dazu obliegen üblicherweise der Kriminalpolizei. In diesem Fall ist das anders, hier liegen sie nach wie vor bei der Verkehrspolizei – und das mit Folgen. Das Unheil begann mit einem Verkehrsunfall, die weiteren, zu Tage tretenden Umstände aber hätten längst ausgereicht, den Fall an die Kripo weiter zu geben. Das ist nicht erfolgt, auch nicht nach entsprechender Nachfrage durch eine im Prozess engagierte Anwaltsvertretung. Verkehrspolizisten haben eine andere Ausbildung, andere Aufgaben und Arbeitsweise als die Kripo.

Hintergrund

Polizei kontrolliert erneut Poser- und Raserszene

Die Polizei hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag erneut schwerpunktmäßig die Poser- und Raserszene in Heilbronn kontrolliert. Die Spezialisten der Arbeitsgruppe Poser und Raser (PUR) waren hierzu

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Polizei kontrolliert erneut Poser- und Raserszene

Die Polizei hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag erneut schwerpunktmäßig die Poser- und Raserszene in Heilbronn kontrolliert. Die Spezialisten der Arbeitsgruppe Poser und Raser (PUR) waren hierzu sechs Stunden im Stadtgebiet unterwegs und überprüften szenetypische Fahrzeuge.

Bei den Kontrollen und der Überwachung des Straßenverkehrs fielen mehrere Personen mit ihren Autos auf. Insgesamt stellten die Beamten sieben Verstöße fest. Neben nicht angepasster Geschwindigkeit, dem Verursachen unnötigen Lärms und der Benutzung eines Mobiltelefons am Steuer eines Kfz wurden zwei Personen dabei beobachtet, wie sie über eine rote Ampel fuhren. (rnz) 

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Ein Punkt, der am zweiten Verhandlungstag bei den Zeugenbefragungen eine große Rolle spielte, zeigt das. Es ging um die Beifahrerin und Freundin des Unfallfahrers und um deren Handydaten. Die Kripo hätte die Telefone sofort an sich genommen beziehungsweise die entsprechenden Inhalte. So aber konnten sie gemeinsam, vermutlich in der Nacht nach dem Unfall, als sie beide zur Beobachtung im Krankenhaus und dazu noch im selben Zimmer waren, Daten, Fotos sowie Chats löschen. Eine Leerstelle von zehn Tagen rund um das Unfallgeschehen im Nutzungsverlauf der Zeugin machte den vorsitzenden Richter Alexander Lobmüller misstrauisch und, als er von ihr keine Erklärung dazu bekam, auch wütend. Schon zuvor hatte eine Anwältin der Nebenkläger sich deutlich darüber beschwert, dass und wie man hier angelogen werden würde. Lobmüller drohte der Zeugin schließlich sogar mit Erzwingungshaft.

Die entscheidende Rolle dabei spielt der Paragraf 55 der Strafprozessordnung, der besagt, dass sich Zeugen nicht selbst belasten müssen und dessen divergierende Auslegung durch den Rechtsbeistand der Zeugin – mit ihm stand die 20-Jährige bei ihrer Aussage in ständigem "Flüsterkontakt". Es ist anzunehmen, dass auch dann, nachdem Lobmüller nach einer Beratungspause von seiner Androhung absah und die Befragung fortsetzte, dieses Thema noch nicht ausgestanden ist. Zudem er schon zuvor weitere Ermittlungen angekündigt hatte.

Der Angeklagte H. blieb während der gesamten Verhandlung stumm, seine Anwältin hatte schon zu Beginn und auf die entsprechende Frage des Richters geantwortet, er werde sich weder heute noch später äußern. Bevor der Prozesstag der Zeugenbefragung diente, waren noch zwei Dinge zu klären: Darf der von der Polizei entsandte Prozessbeobachter überhaupt im Saal anwesend sein und müssen ihn eventuell auch die Angehörigen des Angeklagten verlassen. Nachdem die Eltern erklärt hatten, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, durften sie bleiben.

Der Fokus aller Befragungen, diese Zeugen waren zugleich auch Ersthelfer, lag auf dem Unfallhergang. Dies wurde nachgefragt mit einer Intensität, bei der Millimeter offenbar mehr zählten als Menschlichkeit. Deutlich wurde das auch bei der Aussage der Frau des Unfallopfers, die sich über mehrere Stunden hinweg mehrfach und äußerst detailliert Abläufe anhören und nacherleben musste, die ihr, weil bewusstlos, bisher unbekannt waren: Das Schreien der Kinder, wie sie Erstversorger beruhigten, wie verletzt und verstört sie waren, benommen nach dem Papa und der Mama riefen, wie sie selbst blutend über ihrem Mann lag, der zu diesem Zeitpunkt schon tot war.

Von der Polizei, die erst nach der Feuerwehr vor Ort war, so berichtete es ein Zeuge des Einsatzes, mussten an die 100 Schaulustige vertrieben werden. Laut Zeugenaussagen half auch der Unfallfahrer zunächst bei der Bergung mit, er habe dabei den Eindruck gemacht, das ganze Geschehen nicht wirklich zu begreifen. Wie belastend die Aussagen für die Frau des Unfallopfers waren, wurde auch in ihren Schilderungen deutlich, die die traumatisierten Kinder betrafen. Der Vierjährige, der sich immer noch weigert, den Tod des Vaters zur Kenntnis zu nehmen und die Mutter fragt, wenn er nachts aufwacht, ob sie jetzt auch tot sei. Oder wie die Tochter, die immer noch den Lieblingspulli des Vaters mit sich trägt, sich erst jetzt für eine Behandlung öffnet. Psychologische Betreuung bekommt auch die Mutter, als eine Unfallfolge ist sie immer noch doppelsichtig, kann kein Buch oder Zeitung lesen.

An diesem Prozesstag ergab sich ein Psychogramm des Täters, das mit Sicherheit noch weiter thematisiert werden wird. Eine Mitarbeiterin der Jugendhilfe (Jugendamt der Stadt Heilbronn), die mehrfach mit ihm gesprochen hatte, las dazu aus dem Protokoll vor, eine Gratwanderung von Informationen, die sie weitergeben konnte oder auch nicht durfte. Daraus ging hervor, dass H. einmal auch Bedauern über den Unfall geäußert habe und dass es einen starken familiären Zusammenhang gibt. Hinzu kommt auch die religiöse Bindung im muslimische Elternhaus oder dass die Mutter bestimmenden Einfluss auf seinen Werdegang gehabt habe und es Ausgehzeiten gab, die er meistens einhielt. Zur Überraschung aller stellte sich dann noch heraus, dass H. auch für zwei Jahre Mitglied im Heilbronner Jugendgemeinderat war. In zwei Briefen aus der Haftanstalt, in der er seine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker weiterführen kann, bezeichnet er den Unfall mehrfach als "Scheiß", der ihm passiert sei, und beteuert seine Unschuld.

Der Prozess wird am Mittwoch, 20. September, fortgesetzt.

Update: Donnerstag, 7. September 2023, 19.18 Uhr


Opfer bleiben Opfer und Raser ein Problem

Von Brigitte Fritz-Kador

Heilbronn. Für den 5. September ist der zweite Prozesstag für das Verfahren gegen Yasin H. angesetzt, bei dem es um die Tötung eines Familienvaters durch einen "Raserunfall" in der Heilbronner Wollhausstraße im Februar dieses Jahres geht.

Diese lebenslang nachwirkende Tragödie für seine Frau und die beiden kleinen Kinder ist, trotz des großen Medien-Echos, offenbar kein Grund unter den Rasern, von dieser Mischung aus Angeberei und krimineller Verantwortungslosigkeit abzulassen. Den Beleg lieferten erst vor wenigen Tagen eine 22-Jährige und ein 21-Jähriger, die sich in der Tempo-40-Zone der Allee in Heilbronn ein Rennen mit bis zu 110 Sachen geliefert hatten.

Offenkundig viel zu schnell unterwegs: Bei diesem Unfall im Februar 2022 mitten in Heilbronn wurde das Auto regelrecht zerfetzt. Foto: Julian Buchner

Ähnlich schnell war auch H. unterwegs. Ihm wird in dem Prozess vorgeworfen, mit 100 km/h in der 40er-Zone den tödlichen Unfall verschuldet zu haben. Im Laufe des Verfahrens soll nun auch geprüft werden, ob der Vorwurf des Totschlags um den des Mordes erweitert wird, unter Verweis auf über den Vorsatz hinausgehende Mordmerkmale, wie etwa Heimtücke.

Die beiden oben genannten Raser, die von der Polizei bei einer nächtlichen Kontrolle bei einem illegalen Rennen erwischt wurden – wobei die 22-Jährige zunächst sogar noch geflüchtet war –, sind jetzt den Führerschein los. Beide werden mit einem Verfahren rechnen müssen, aber mit welchem, ist offen: Vor Gericht oder nur mit einem Strafbefehl? Rechtlich wird ein Rennen anders bewertet als "nur" ein Rasen.

Und auch die Sache mit den Strafbefehlen, gerade in solchen Fällen, hat ihre Tücken. In der kürzlichen Jahrespressekonferenz der Staatsanwaltschaft Heilbronn zeigte sich das wieder einmal. Es geht hier um Abwägung im Rahmen der Tat wie auch darum, das Gericht auf diese Weise zu entlasten, daraus machte man keinen Hehl.

Was einem Strafbefehl völlig abgeht, ist die abschreckende Wirkung nach außen, weil er nicht öffentlich wird. Oder nur als Zahl: 2022 wurden 28 Raser-Verfahren von der Heilbronner Staatsanwaltschaft eingeleitet. Das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger kommt in deren Be- oder Verurteilung oft nicht mit.

Die beiden jungen Leute haben sich offenkundig nicht von einem drohenden Strafbefehl abschrecken lassen, als sie sich das Rennen auf der Allee lieferten, und ob sie von einem harten Urteil beeindruckt sein werden, bleibt abzuwarten. Man ist den Führerschein für eine gewisse Zeit los, zahlt die Strafe – und das war es dann.

Oder auch nicht: Yasin H. war schon vor dem tödlichen Unfall wegen verschiedener Verkehrsdelikte aufgefallen. In Erinnerung bleibt auch ein anderer Raserunfall auf dem Europaplatz, bei dem im Februar 2022 zwei Insassen eines BMW schwer verletzt worden waren, als ihr Fahrzeug gegen einen Baum gekracht war und aufgrund des hohen Tempos regelrecht zerfetzt wurde – mitten in Heilbronn, in der 50er-Zone.

Opfer sind aber auch die Menschen, die nicht körperlich zu Schaden kommen, sondern einen wirtschaftlichen durch Raser erleiden. Am 17. Juli 2022 fuhr ein unter Alkohol- und Cannabis-Einfluss stehender 18-Jähriger in der Bismarckstraße mit einem BMW mit hoher Geschwindigkeit von der Straße auf den Gehweg, mähte eine Ampel um, ebenso drei eiserne Schutzpfosten.

Bevor der Wagen auf dem Grundstück zum Stehen kam, beschädigte er, durch eine Hecke hindurch, noch schwer den dahinter befindlichen schmiedeisernen, historischen Zaun. Er konnte noch von Glück reden, dass ein hier wohnender Vater kurzfristig darauf verzichtet hatte, an jenem warmen Abend mit seinem kleinen Sohn spaßeshalber im Garten zu zelten.

Wohl nur deshalb kamen die Bewohner mit dem Schrecken davon. Sie haben jedoch einen finanziellen Schaden erlitten, der bis heute nicht behoben ist, und anhaltenden Ärger darüber und über eine ausufernde Bürokratie.

Auch sie fühlen sich längst als Opfer. Die Versicherung des Täters beziehungsweise seines Vaters, der ihm den BMW zur Verfügung stellte und ein Transportunternehmen mit vielen Fahrzeugen besitzt, wehrt sich bis heute, den Schaden so zu beheben, dass der ursprüngliche Zustand des Zaunes wieder hergestellt werden kann. Nicht mehr und nicht weniger wünscht man sich.

In der Sache geht es um einige tausend Euro, im Prinzip aber um mehr. Vermutlich wird das jetzt ein Gericht klären müssen. Der Versicherer bestellte zwei Gutachten, allerdings bei dem gleichen Gutachter, und dieser sah sich den Schaden nicht vor Ort, sondern nur auf Fotos an. Die Ampel ist inzwischen wieder aufgerichtet, die Schutzpfosten liegen immer noch als stumme Zeugen flach.

Auch die Familie des in der Wollhausstraße getöteten Vaters musste sich in den ersten Wochen nach dem Unfall außer mit den seelischen und körperlichen Verletzungen, mit der Unwilligkeit eines Versicherers auseinandersetzen. Erst auf massiven Druck ihrer Anwälte war man dort bereit, einen Vorschuss auszuzahlen, der eine Zeit lang ihre wirtschaftliche Existenz sichert.

Illegale Rennen beschäftigen auch den Gemeinderat

Christoph Troßbach, der die vom tödlichen Raserunfall geschädigte Familie im noch ausstehenden Zivilprozess vertreten wird – dabei geht es dann um dessen wirtschaftliche Folgen –, hat schon früh im Gespräch mit der RNZ gefordert, ein Verzeichnis anzulegen, das, neben dem "Punktekonto", Verkehrsdelikte aufführt.

Es solle als Präventivmaßnahme dienen, um gegebenenfalls mit Eignungstests festzustellen, ob die Betroffenen überhaupt zum Führen eines Kraftfahrzeugs in der Lage sind. Im Fall von Yasin H. hätte ein solches Verzeichnis, beziehungsweise die Konsequenz daraus, möglicherweise eine Schutzfunktion entwickelt.

Da Troßbach auch CDU-Stadtrat in Heilbronn ist, hat sich seine Fraktion jetzt auch im Heilbronner Gemeinderat mit einem Antrag dieser Forderung angeschlossen. Hier handelt es sich aber nicht um eine kommunale Aufgabe, dafür müsste eher das Verkehrsstrafrecht geändert oder erweitert werden. Im polizeilichen Führungszeugnis können Verkehrsvergehen aber jetzt schon auftauchen. Bei den meisten Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten, diese können mit Bußgeldern, Punkten im Zentralregister in Flensburg und im schlimmsten Fall mit Fahrverbot sanktioniert werden. Strafbar im Rahmen des Verkehrsstrafrechts sind solche Verstöße nicht.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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