Holocaust-Gedenken Wiesloch

"Es ist unsere Pflicht, Erinnernde zu sein"

Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus in der evangelischen Stadtkirche in Wiesloch

28.01.2020 UPDATE: 29.01.2020 06:00 Uhr 3 Minuten, 1 Sekunde
„Worte zum Gedenken, Hören und Erfahrungen Teilen“ sprachen (von links) OB Dirk Elkemann, Dominique Lafon, Pfarrerin Karin Treiber, Walter Reiß und Pfarrer Alexander Hafner. Foto: Pfeifer

Von Anton Ottmann

Wiesloch. Coco Schumann überlebte als 18-jähriger das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort spielte er gerade in einem kleinen Orchester vor den Verbrennungsöfen, als einer der Geiger mit ansehen musste, wie seine Frau und seine fünf Kinder zu den Gaskammern getrieben wurden. Er weinte bitterlich, spielte aber weiter. Da sagte ein Sturmbannführer lachend: "Was weinst du, Drecksjude, da kommst du doch selbst bald rein." Diese unfassbare Begebenheit ist nur einer der Berichte von Holocaust-Überlebenden, die Fenja Dräger, Sofie Gebhardt, Ellen Gerstner, Nick Hess, Emma Hornung und Henrik Wieditz, Neuntklässler des Ottheinrich-Gymnasiums (OHG), auf der vortrugen.

Sie stellten sehr eindrucksvoll dar, wie Menschlichkeit, Mitgefühl und Zivilcourage in Vergessenheit gerieten und Barbarei, Gleichgültigkeit und Menschenverachtung Platz machten, und kamen zu dem Schluss: "Es ist die Pflicht Deutschlands, Erinnernde und Bewahrende zu sein, damit wir nicht dazu verdammt sind, eine Vergangenheit wie die NS-Diktatur zu wiederholen." Die von Christian Annuschat, dem stellvertretenden Schulleiter des OHG, erarbeitete szenische Lesung war zutiefst berührend, weil sie nicht nur einzelne Schicksale lebendig werden ließ, sondern weil auch die jüngste Generation ihre Fragen an die Älteren stellte, die nachdenklich machten. Beispiel: "Wie kann es sein, dass in Deutschland heute die Kultur des Erinnerns zu schwinden droht und es Deutsche gibt, die verbürgte Erinnerungen ausblenden, ja sie geradezu verneinen?"

Foto: Pfeifer

Eine sehr emotionale Rede hielt Dominique Lafon, Beigeordneter der Partnerstadt Fontenay-aux-Roses, dem es ein Herzensanliegen war, an der Gedenkfeier teilzunehmen, wie schon in den fünf Jahren zuvor. Er schäme sich nicht der Tränen, die er am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, vergieße. Sie seien Ausdruck seiner inneren Aufgewühltheit und seiner Auflehnung gegen das Absurde.

"Es sind Tränen angesichts des Leids der Wieslocher Juden, die ab Herbst 1940 unter der Mitschuld der Vertreter des französischen Staates in das Konzentrationslager Gurs deportiert wurden." Sie seien aber auch eine Hommage an seine Familie, die schwer unter der deutschen Besatzung gelitten habe. Unter anderem sei ein Großonkel als Widerstandskämpfer in das KZ Mauthausen deportiert worden. Seine Rede, die er auf Französisch hielt und die den Zuhörern auf Deutsch vorlag, endete mit den Worten: "Kämpfen wir für Gerechtigkeit, Respekt und für das Glück, gemeinsam in Frieden zu leben. Dieses Engagement ist das schönste Zeichen unserer Freundschaft."

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Auch Oberbürgermeister Dirk Elkemann erinnerte an die gequälten und getöteten Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Behinderten. Niemals mehr dürften Mitmenschen als "Volksschädlinge" bezeichnet werden. "Es ist unser aller Verantwortung", sagte er, "dass sich so etwas nicht wiederholt". Er rief dazu auf, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit mutig entgegenzutreten und benannte mit klaren Worten die AfD als Gefahr für Deutschland. Der Rechtsruck, den diese Partei zu verantworten habe, habe glücklicherweise das Interesse an den NS-Gedenkstätten gefördert, sagte Elkemann: Sie seien bleibende Mahnung und Erinnerung und damit vielen Menschen in zunehmendem Maße ein großes Anliegen.

Für Musik sorgte das Querflöten-Duo Kerstin Rosenbauer und Maike Waibel. Foto: Pfeifer

Pflegedienstleiter Walter Reiß sprach für das Psychiatrische Zentrum in Wiesloch (PZN), das zusammen mit der Stadt die jährliche Gedenkfeier organisiert hatte. Er ging auf die Verbrechen ein, die in der Psychiatrie, speziell auch in Wiesloch, an den Patienten verübt wurden. Menschen seien ausgegrenzt, sterilisiert und getötet und für eine obskure Forschung missbraucht worden. Es bestürze ihn, dass gebildete und geachtete Bürger diesen brutalen Rassenwahn zugelassen, gebilligt und ausgeführt hätten. Lange Zeit seien diese Verbrechen nicht aufgearbeitet worden. Erst im Jahr 2015 habe man der zwölf ermordeten Kinder aus dem PZN Wiesloch gedacht und er sei froh, dass inzwischen Stolpersteine in der ganzen Stadt an die ehemaligen jüdischen Bewohner erinnerten. "Wir müssen der Opfer gedenken, das ist das Wichtigste, was wir tun können", mahnte er.

Auch die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirchengemeinden in Wiesloch kamen zu Wort. Pfarrerin Karin Treiber von der Petrusgemeinde berichtete in ihrer Begrüßung von beeindruckenden Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden während ihres Studiums in Israel. Als sie ihre Vermieterin, eine Holocaust-Überlebende, fragte, warum sie ihr ein Zimmer vermietet habe, erhielt sie als Antwort: "Weil du in dieses Land kommst und zuhörst."

Zum Schluss stellte Pfarrer Alexander Hafner von der Seelsorgeeinheit Wiesloch-Dielheim die Frage: "Können wir als Christen nach Auschwitz noch beten?" Das Böse, das in Auschwitz gewütet habe, sei nicht fassbar. Vielleicht habe selbst Gott es nicht verstanden. Papst Franziskus habe in einer Meditation in Jerusalem gesagt: "In der Frage liegt der Schmerz Gottes, der den Sohn verloren hat." Und er habe zum Schluss gebetet: "Herr, gib uns die Gnade, uns zu schämen für das, was wir getan haben." Hafner appellierte an die zahlreichen Besucher der Gedenkfeier: "Die Worte heute Abend dienen zum Gedenken, Hören und Erfahrungen Teilen, um damit gemeinsam in die Zukunft zu gehen."

Die Feierstunde wurde musikalisch umrahmt vom Querflöten-Duo Kerstin Rosenbauer und Maike Waibel unter der Leitung von Elisabeth Späth-Weidner (Musikschule Südliche Bergstraße).

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