Vom Weinheimer Schlosshof in die Hölle auf Erden
Die Verschleppung jüdischer Weinheimer jährt sich 2020 zum 80. Mal.

Von Philipp Weber
Weinheim. "Der vierjährige Ernst Rapp, die siebenjährige Doris Hirsch und der zehnjährige Kurt Altstädter waren die Jüngsten": Die Zeilen von Autorin Christina Modig berühren. Sie hat in ihrem Beitrag zu dem Werk "Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945" beschrieben, was im Verlauf der "geheimen Aktion" heute vor 80 Jahren geschah. Am 22. Oktober 1940, dem jüdischen Feiertag Sukkoth (Laubhüttenfest), wurden mindestens 65 Weinheimer Juden verschleppt. Sie zählten zu den 6504 Menschen, die an jenem Tag von ihrer Heimat ins militärisch unbesetzte Südfrankreich deportiert wurden.
Als "Architekten" dieses Verbrechens gelten unter anderen die damaligen Gauleiter Robert Wagner und Josef Bürckel. Ziel der menschenverachtenden Aktion war, Baden und die Saarpfalz "judenfrei" zu machen. Die Betroffenen dieses Verbrechens waren Weinheimer Mitbürger, die auf Familiennamen wie Adler, Mayer oder Kaufmann hörten.
Hintergrund
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Ihre Verschleppung bildete den Höhepunkt einer systematischen Politik der Verfolgung und Entrechtung, die auch vor Weinheimern jüdischen Glaubens nicht haltgemacht hatte – und einen Teil von ihnen bereits zuvor zur Auswanderung veranlasste.
Die übrig Gebliebenen hatten zum Teil nicht einmal eine Stunde Zeit, einige Habseligkeiten und etwas Geld zusammenzupacken. Erlaubt waren maximal 50 Kilo Gepäck und 100 Reichsmark. Das später als "Wagner-Bürckel-Aktion" oder "Oktober-Deportation" in die Geschichte eingegangene Verbrechen stellt damit zugleich eine der größten Enteignungen jüdischer Mitbürger in der Geschichte dar. Die Opfer wurden zunächst im Schlosshof zusammengetrieben und gezwungen, Fahrzeuge zu besteigen. Diese brachten sie nach Mannheim. Von dort aus fuhren die Züge ins Vichy-Frankreich.
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"Die psychische Verfassung der Deportierten, von denen 60 Prozent älter als 60 Jahre alt waren, spiegelte die ganze Bandbreite menschlicher Reaktionen wieder", fasst Modig ihre Quellenarbeit in Worte. Bereits die Fahrt nach Südfrankreich und das lange Warten in den überfüllten Waggons geriet zur Strapaze, die Ankunft in Gurs gestaltete sich chaotisch. Viele sollten ihr Gepäck nie wieder finden. Männer wurden von ihren Familien getrennt.
Doch das war nichts im Vergleich zur Hölle des Lagerlebens: Durch Unterernährung und katastrophale hygienische Bedingungen breiteten sich Krankheiten aus. Im Winter 1940/41 setzte ein Massensterben ein, dem elf Weinheimer zum Opfer fielen. Erst durch Veröffentlichungen in der ausländischen Presse habe sich die mehr oder weniger mit Nazideutschland kollaborierende Vichy-Regierung gezwungen gesehen, das Lager für Hilfsorganisationen zu öffnen, schreibt Modig.
Die Versorgung verbesserte sich, und einige konnten sogar aus dem Lager gerettet werden. So kam der damals elf Jahre alte Martin Eckstein mit 50 weiteren Kindern in ein Waisenheim, später verhalfen Quäker ihm zur Flucht in die Schweiz. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg – als einziger in seiner Familie. Auch Kurt Altstädter überlebte, ebenso wie Doris Hirsch, die von mutigen Helfern in Kinderheimen versteckt wurde. Da nun auch der Kontakt zu Organisationen wie der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" möglich war, gelang Mina Irma Mayer und Kathinka Stiefel die Emigration in die USA. Doch bereits im Sommer 1941 nahm das Reichssicherheitsamt den Opfern auch diese Chance auf Rettung.
Für die weiterhin Internierten fiel am 20. Januar 1942 das Todesurteil: dem Tag der Wannsee-Konferenz. Von Sommer 1942 an wurden die Menschen von Gurs in die Vernichtungslager im Osten verschleppt, die meisten nach Auschitz. Nachweislich dorthin deportiert wurden 19 der Weinheimer Opfer. Das Datum ihres Transports stellte zumeist auch ihr letztes Lebenszeichen dar.