Die Mauer als persönlicher Reibungspunkt
Diakon Rudi Kößler verbindet mit dem Deutschland einst trennenden Bauwerk persönliche Lebenserinnerungen

Rudi Kößler (West) und Thomas Günzel (Ost) kennen sich aus der Zeit vor dem Mauerfall und haben bis heute Kontakt. Foto: privat
Von Ursula Brinkmann
Waldbrunn-Oberdielbach. Die Maueröffnung im Jahr 1989 ist ein gesamtdeutsches Ereignis. Aus dem Blickwinkel eines Einzelnen aber zeigt dieses Ereignis immer wieder neue Facetten – auch nach 30 Jahren. Einen persönlichen Rückblick auf Erlebtes an, hinter und vor der Mauer schildert Rudi Kößler. Er ist Diakon in der evangelischen Kirchengemeinde Schollbrunn- Oberdielbach.
"Warum befasse ich mich mit der Maueröffnung?" hat sich Kößler in einem Text für "seinen" Gemeindebrief über den nunmehr drei Jahrzehnte zurückliegenden Fall der Mauer gefragt. In seinem Leben gab es Berührungspunkte und Erlebnisse quasi entlang der innerdeutschen Grenze, über die er erneut nachgedacht und sie aufgeschrieben hat. Die Mauer lässt Rudi Kößler bis heute nicht los. "Während meines Studiums, von 1978 bis 1982 an der Evangelistenschule in Wuppertal-Barmen habe ich mit anderen Studierenden jedes Jahr in der Karwoche Predigtdienste in den Gemeinden der Berliner Stadtmission übernommen." Es waren Dienste in West- und Ostberlin. An die Grenzübergänge in der Friedrichstraße hat der Geistliche befremdliche Erinnerungen und spricht von "sonderbaren Vorkommnissen". Aber: "Wir Studierenden wussten, dass wir für den Grenzübertritt jeweils zwei bis drei Stunden einplanen mussten." Am besten sei es gewesen, den Kopf zu senken und keinen Anlass zu bieten, aufzufallen. "Die Atmosphäre war angespannt."

„Halt, hier Grenze!“: Als Diakon in Lübeck-Eichholz wohnte Kößler nur 200 Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt. Foto: privat
In den Gemeinden und im "Paulinum" in Ostberlin wurden Kößler und andere Studierende über das "andere Leben" in der DDR informiert. So konnte er mit Thomas Günzel, der im Paulinum studierte, offene und gute Gespräche führen. "1986 haben meine Frau und ich ihn in seiner Heimatstadt Dresden besucht. Bis heute habe ich zu ihm einen freundschaftlichen Kontakt." Günzel wurde - wie die meisten DDR Bürger - von der plötzlichen Grenzöffnung völlig überrascht. Bei einem Telefongespräch einige Tage danach sagte der Mann aus dem Osten zu dem im Westen, dass er zwar mit leichten Verbesserungen in den Reisemöglichkeiten gerechnet habe, aber keineswegs mit diesem Paukenschlag. Zuerst sei er noch skeptisch gewesen. "Doch dann hat auch er seiner Sehnsucht nach Freiheit freien Lauf gelassen."
Als Kößler seine erste Stelle als Diakon in der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Lübeck-Eichholz begann, wurde ihm bewusst, dass die Gemeinde östlich durch die innerdeutsche Grenze begrenzt wurde. "Da ging die Brandenburger Landstraße einfach nicht weiter." Ein großes Stoppschild, eine Schranke, zwei Grenzzäune, das Sperrgebiet und der 30 Meter entfernte Wachturm markierten die Grenzanlage. Von dem Jugendhaus, in dem er wohnte - 200 Meter von der Grenze entfernt – war Kößler tagtäglich, besser: nachtnächtlich damit konfrontiert, was es bedeutet, eine Grenze zu ziehen: "Flutlicht, Schüsse, dumpfe Schläge, Lautsprecheransagen – all das befremdete mich."
Auf Grund der Freundschaft mit Günzel konnte Kößler mehrmals mit Lübecker Jugendlichen nach Ostberlin fahren. "Das waren für die Jugendlichen nachdenkliche und spannende Fahrten." Die strengen Grenzkontrollen seien den meisten fremd gewesen, erinnert sich Kößler. Und auch daran, dass die jungen Leute aus dem Westen für die eingeschränkte Meinungsfreiheit "drüben" wenig Verständnis hatten. "Doch damit waren sie bei unseren Begegnungen in den Ostberliner Gemeinden und Familien nun mal konfrontiert."
1988 wechselte Rudi Kößler seine Diakonenstelle und ging nach Lauenburg an der Elbe. "Zonenrandstadt!" Zwischen Lauenburg und Boizenburg befand sich die massiv bewachte innerdeutsche Grenzanlage. "Wieder war die Mauer in meinem Leben präsent." Dort erlebten der Diakon und seine Frau ein gutes Jahr später den Fall der Mauer, teilten die Freude über die neue gewonnene Freiheit mit den Menschen. "Wir haben sie zu Begegnungen ins Gemeindehaus der Kirchengemeinde und zum Besuch der Gottesdienste eingeladen." Als Christen seien sie Gott dankbar, dass es vor 30 Jahren zu der gewaltfreien Grenzöffnung gekommen sei.