"Wir wissen nicht, warum Krebs immer mehr Junge trifft"
Prof. Karen Steindorf über die neue Vision "Null Erkrankungen" - Richtige Prävention könnte 40 Prozent der Tumoren verhindern

Von Birgit Sommer
Heidelberg. Mit "Vision Zero" – auf Deutsch: die Vision Null – hat Schweden vor mehr als 20 Jahren das Ende des Sterbens auf den Straßen eingeläutet. Es wurde das Land mit den wenigsten Verkehrstoten. Die deutschen Krebsforscher haben sich das zum Vorbild genommen. "Vision Zero. Die Neuvermessung der Onkologie" nannten sie ihr jüngstes Symposium, bei dem es auch um die immense Bedeutung von Prävention und Früherkennung ging. Prof. Karen Steindorf leitet beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg die Abteilung Bewegung, Präventionsforschung und Krebs. Im RNZ-Interview sagt sie, wie sich die Zahl der Erkrankungen senken ließe.
Frau Prof. Steindorf, die Zahl der Krebserkrankungen steigt kontinuierlich. Fast jeder zweite von uns wird einen Tumor bekommen. Kennen Sie die Ursachen für diesen Anstieg?
Das ist primär in der Zunahme der Lebenserwartung begründet. Krebs ist eine Erkrankung der Älteren.
Mit der Umwelt hat es nichts zu tun?
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Nein, mit Berechnungen kann man zeigen, dass der Alterseffekt das Geschehen dominiert.
Warum trifft Krebs aber auch immer mehr junge Leute?
Das ist eine der großen Fragen, denen sich die vor fast zwei Jahren in Deutschland ausgerufene Dekade gegen den Krebs widmen will. Wir wissen es derzeit nicht.
Sind es bestimmte Krebsarten, die die Jüngeren betreffen?
Darmkrebs auf jeden Fall. Eine Hypothese ist, dass Übergewicht am Krebs der jungen Menschen schuld ist. Das ist für zahlreiche Krebserkrankungen ein Risikofaktor, ebenso der zunehmende Bewegungsmangel.
Allein durch Prävention könne man 40 Prozent der Erkrankungen vermeiden, sagen Krebsforscher. Was müsste man tun, was lassen?
Rauchen steht immer noch ganz vorne bei den Risikofaktoren, dazu kommen ungesunde Ernährung, Übergewicht, Bewegungsmangel. Diese Lebensstilfaktoren erklären den größten Anteil.
Auch Früherkennung kann Leben retten. Welche Möglichkeiten gibt es da für welche Krebsarten?
Es gibt Untersuchungsprogramme für Brust-, Darm-, Prostata-, Haut- und Gebärmutterhalskrebs, die je nach Alter angeboten werden. Wir empfehlen jedem, die Angebote wahrzunehmen.
Die Niederländer schicken Sets für Stuhlproben für die Darmkrebsvorsorge gleich mit einem frankierten Rückumschlag ins Haus. Muss man den Bürgern die Vorsorge einfach leichter machen?
Definitiv. Ähnliche Erfolge konnten Kollegen von mir am DKFZ in Zusammenarbeit mit einer Krankenkasse vorweisen. Auch sie konnten die Teilnahme an den Stuhltests deutlich erhöhen.
Menschen haben wohl auch falsche Vorstellungen von Vorsorge. Sie warten bei Darmkrebs erst auf die Beschwerden. Oder kalkulieren familiäres Risiko nicht ein.
Genau. Generell ist die Gesundheitskompetenz bei uns noch nicht groß genug, das Wissen, was kann ich selber tun gegen Krebs. So wird auch die Impfung gegen Papillomviren, die den Gebärmutterhalskrebs auslösen, in Deutschland leider nicht gut genug angenommen. Da gibt es eine Analogie zu Covid-19: Wer sich schützt, erkrankt nicht. Aber dieses positive Endergebnis nimmt man gar nicht wahr. Der Gewinn ist somit da, aber leider schwer zu erkennen. Wichtig ist aber auch: Nicht nur der Einzelne kann etwas zur Prävention beitragen, sondern auch die Gesellschaft und die Politik. Wenn wir zum Beispiel Bewegung fördern wollen, dann muss sichergestellt werden, dass ich mich in der Stadt auch gut und sicher bewegen kann.
Ist Bewegung nicht überall möglich?
In der Stadt brauchen wir dazu sichere Fahrradwege und genügend Fahrradabstellplätze. Das müssen wir als Gesellschaft vorantreiben.
Jeder Krebs ist anders, wenn man in den molekularen Bereich der Krebszelle geht. Das ist eigentlich nicht gut, wenn man ein Heilmittel finden will. Sehen Sie da auch Chancen?
Zur Therapie möchte ich wenig sagen, das ist nicht mein Thema. Aber tatsächlich stellt sich uns auch in der Krebsprävention diese Frage. Es gibt verschiedene Lebensstile und unterschiedliche genetische Veranlagungen. Vermutlich ist es sehr effizient, wenn wir die Prävention individueller gestalten und zum Beispiel bei familiär gehäuftem Risiko die Betreuung engmaschiger vornehmen. Unsere Forschung richtet sich daher auch darauf, gezielt mehr Informationen zu generieren und mithilfe statistischer Methoden und künstlicher Intelligenz zu verknüpfen, Daten zum Beispiel über Lebensstilfaktoren sowie Informationen, die wir aus Biomarkern, Genanalysen und bildgebenden Verfahren ziehen, mit dem Ziel, jedem Menschen seinen eigenen Weg zur Krebsprävention aufzuzeigen.
Solche Daten werden derzeit kaum genutzt. Wie kann man einen sicheren Austausch anonymisierter Daten ermöglichen?
Daten sind das Gold des 21. Jahrhunderts, heißt es. Natürlich muss man Datenschutzinteressen abwägen, aber wir sollten viel Kraft investieren, um die Erkenntnisse besser verknüpfen zu können. Darin stecken ganz große Chancen für die Krebsprävention.