Warum viele Engagierte der Literaturszene frustriert sind
Veronika Haas ist Organisatorin des "Literaturherbst". Im Interview zieht sie Bilanz.



(44) Organisatorin des Heidelberger Literaturherbstes
Von Philipp Neumayr
Heidelberg. Es brodelt gewaltig in der Heidelberger Literaturszene. Erst die geplanten Einsparungen bei den Projektmitteln für die "Unesco City of Literature", dann der Ärger um die Zukunft der "Heidelberger Literaturtage". An diesem Donnerstag geht es im Kulturausschuss nun darum, wie es weiter geht für die Literaturstadt Heidelberg und ihre Engagierten. Ob es das Festival "Literaturherbst" künftig noch geben wird, bleibt wohl vorerst offen. Organisatorin Veronika Haas (44) über fehlende Wahrnehmung und Politik in Hinterzimmern.
Frau Haas, der "Literaturherbst" 2022 ist vorbei. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Dieser achte Literaturherbst war ein immenser Erfolg mit erneutem Besucherrekord, die Resonanz war überwältigend. In diesem Jahr boten wir Begegnungen mit rund 100 Autoren, Künstlern, Musikern, Übersetzern und Schauspielern in drei Programmpaketen an 20 Spielstätten. Wir hatten viele Höhepunkte im Rahmen unseres Themenschwerpunkts "Starke Frauen. Starke Literatur"– etwa die Eröffnung mit Florence Brokowski-Shekete, die Lesung von Golineh Atai über Frauen und Freiheit in Iran oder auch die Vorführung des Films "Woman" im Gloria-Kino. Allein zu diesen drei Veranstaltungen kamen rund 500 Besucher. Ein Höhepunkt war auch Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter im Doppel mit der Heidelberger Künstlerin Cholud Kassem.
Und dennoch erwägen Sie, die Leitung des Festivals aufzugeben. Warum?
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Für mich steht schweren Herzens fest, dass ein fünftes Jahr Ehrenamt meine Kräfte und meine beruflichen Verpflichtungen als Journalistin übersteigt. Wenn wir nicht stärker gefördert werden, können wir dieses Festival nicht weiterführen – trotz acht Jahren Erfolgsgeschichte.
Können Sie das genauer erklären?
Der "Literaturherbst" wurde von der Stadt 2022 erstmals mit 16.000 Euro gefördert, die letzten vier Jahre waren es 10.000 Euro. Mit diesem Budget ein attraktives mehrwöchiges Festival zu organisieren, gelingt nur, wenn man sämtliche Personalkosten einspart. Zum Vergleich: Bei anderen Festivals machen Personalkosten und Büroräume bis zu 70 Prozent des Etats aus.
Sie haben das Festival in diesem Jahr zusammen mit Lothar Seidler ehrenamtlich auf die Beine gestellt.
Wir fanden, wir waren es unserem Publikum und auch allen anderen Ehrenamtlichen schuldig, die den "Literaturherbst" über viele Jahre mitaufgebaut haben, wie Regina Wehrle und Kurt Mattes. Wir sind selbst noch ungläubig, dass es uns diesmal nur zu zweit gelungen ist, ein so erfolgreiches Festival zu konzipieren und auch durchzuführen. Wir können das aber nicht nochmals leisten.
Woran liegt das?
Die Organisation des Festivals ist ein Fulltime-Job, weder Lothar Seidler noch ich können währenddessen unserer eigenen beruflichen Arbeit nachgehen und müssen auf Einnahmen verzichten. Ich habe zudem meinen Jahresurlaub für den "Literaturherbst" verwendet. Unser geringes Festival-Budget erlaubt es nicht, Hilfskräfte zu beschäftigen, also leisten wir alles selbst: von der Verwaltung und Kommunikation über die Programmkonzeption hin zu Broschüren, Plakate, Homepage, soziale Medien und vieles mehr. Bei Veranstaltungen sind wir unser eigenes "Bodenpersonal", rücken Stühle, räumen auf oder erledigen den Ausschank. Da wir nicht institutionell gefördert werden, gehen wir, wenn Rechnungen eintreffen, bisweilen privat in Vorkasse, denn erst nach Abschluss des Festivals erhalten wir das städtische Fördergeld. Ein Festival beschäftigt einen zwölf Monate lang – derzeit ist es die Endabrechnung, im Januar müssten wir wieder mit der Programmplanung beginnen.
Warum fordern Sie nicht mehr Unterstützung vonseiten der Stadt ein?
Das haben wir wiederholt getan. Viele Engagierte aus der Heidelberger Literaturszene beschäftigt seit einiger Zeit die generelle Frage nach der Verteilung von Fördermitteln und den damit verbundenen städtischen Entscheidungsprozessen. Bei manchen wächst der Eindruck, dass Kulturpolitik zunehmend von oben und in Hinterzimmern gemacht wird, dass es an Transparenz fehlt, dass einzelne Entscheidungen auf ihre Wirtschaftlichkeit und Effektivität geprüft werden müssten.
Haben Sie ein Beispiel?
Angesprochen wurde beispielsweise die kostenintensive Video-Leinwand der "Heidelberger Literaturtage", vor der sich stets nur wenige versammeln, die Übertragungen aus dem Spiegelzelt laufen oft ohne Ton. Das wirft die Frage auf: Braucht es diese Leinwand oder kann man das Geld nicht sinnvoller nutzen, etwa um Literatur an die Schulen zu bringen.
Die "Heidelberger Literaturtage" werden künftig als eine eigene Stabsstelle im Kulturdezernat von Bürgermeister Wolfgang Erichson angesiedelt sein. Sie und andere Literaturakteure haben dies kritisiert. Wieso?
Als im Herbst 2021 bekannt wurde, dass die Stadt 60.000 Euro im Literaturbereich sparen will – 20.000 davon bei den "Literaturtagen" – standen etliche Literaturakteure, auch wir "Literaturherbstler", auf der Straße und haben dagegen demonstriert. Dabei wurde uns zugesichert, dass später alle dazu beitragen können, die "Literaturtage" neu aufzustellen und sie bald zurück in eine nicht-städtische Trägerschaft zu überfuhren. Denn dass das Festival die letzten Jahre beim Kulturamt angesiedelt war, war stets nur als Notlösung gedacht. Mit der Rücknahme aller Kürzungen sollte zudem die Literaturstadt konzeptuell neu gedacht werden – das war auch der Wunsch des Kulturausschusses.
Anfang dieses Jahres informierte Kulturbürgermeister Erichson den Kulturausschuss dann über die Neuaufstellung der "Literaturtage" – und darüber, dass die Schriftstellerin und Leiterin des Interkulturellen Zentrums, Jagoda Marinic´, ab 2023 die künstlerische Leitung des Festivals übernehmen wird ...
... mit einem beachtlich erhöhten Budget. Wir erfuhren davon nicht in einem Gespräch, sondern aus der Zeitung. Diese und andere Entscheidungen haben bei vielen den Eindruck gefestigt, dass Literatur in Heidelberg nicht aus der Mitte der Stadtgesellschaft gestaltet und entschieden wird, was aber gerade in einer "Unesco City of Literature" immens wichtig ist. Das gilt auch für die Wettbewerbsfähigkeit um städtische Mittel.
Sehen Sie in der Neuaufstellung der "Heidelberger Literaturtage" mit Jagoda Marinic´ nicht auch eine Chance?
Mir persönlich geht es bei Festivals nicht um Personen, sondern einzig um ein vielfältiges Programm, über dessen Qualität niemand anderes als das Publikum entscheiden darf. Ich denke aber, etwas mehr Empathie und Transparenz statt einer, wenn man so sagen will, "Basta-Politik" hätte allen geholfen. Dass bei uns nun die Frage aufkommt, warum der "Literaturherbst" – ein im achten Jahr mehrwöchiges, erfolgreiches Festival, mit reichhaltigem Programm plus Digital-Formaten – nur mit einem Zwanzigstel des zukünftigen Etats der fünftägigen "Literaturtage" gefördert wird, ist keine "Neiddebatte", sondern unvermeidlich. Man hinterfragt die Wahrnehmung und Wertschätzung der jahrelangen Arbeit.
Die Arbeitsgruppe "Weiterentwicklung Literaturstadt Heidelberg" hat ein Konzept für die Zukunft der Literaturstadt Heidelberg erstellt, das an diesem Donnerstag auch im Kulturausschuss Thema sein soll. Bietet dieses Konzept die Möglichkeit, dass die Interessen der breiten Literaturszene künftig mehr berücksichtigt werden?
Das Kulturamt hat einige Ideen daraus in das neue städtische Literaturförderkonzept übernommen, manche nicht. Diese Auswahl ist für viele noch intransparent. Ein Beispiel: Es gab von der Autorin Marion Tauschwitz den Vorschlag, über die Schriftstellervereinigung PEN Deutschland verfolgte und geflüchtete Autoren nach Heidelberg zu holen. Das wäre ein Gewinn für die Stadt, Synergieeffekte mit hiesigen Autoren und Veranstaltern könnten entstehen. Der städtische Haushalt wäre hierdurch nicht belastet, PEN würde alle Mittel zur Verfügung stellen. Diese Idee wurde in der Verwaltung bisher abgelehnt, was mich und viele andere verwundert.
Wie geht es nun weiter für den "Literaturherbst"?
Wir haben bei der Stadtverwaltung einen Antrag auf institutionelle Förderung über eine Summe von 74.000 Euro pro Jahr gestellt. Dieses Geld brauchen wir dringend, um etwa Honorar- und Hilfskräfte zu engagieren. Man darf nicht vergessen, dass wir keinen festen Austragungsort haben, weshalb wir eigens Räume, Technik und Fachkräfte bezahlen müssen. Es bleibt abzuwarten, was mit unserem Antrag in den nächsten Haushaltsberatungen passiert. Das Problem ist, dass die Programmplanung für einen weiteren "Literaturherbst" schon davor, nämlich ab Januar, starten müsste. Wir hängen ziemlich in der Luft.
Und worauf hoffen Sie ganz generell, wenn Sie an die Zukunft der Literaturstadt Heidelberg denken?
Im Grunde haben wir doch alle nur ein Interesse: Das Publikum für Literatur zu begeistern und den Unesco-Titel vielfältig mit Leben zu füllen. Auf dieses Ziel muss man in Heidelberg wieder zurückkommen. Bevor Dinge entschieden werden, braucht es mehr konstruktiven Austausch und Transparenz, aber auch mehr Teilhabe der Bürger, denn um sie allein geht es doch.
Info: Sitzung Kulturausschuss, Donnerstag, 17. November, 16.30 Uhr, Neuer Sitzungssaal Rathaus, Marktplatz 10.