Von Sarah Kringe
Tu einfach so, als wärst du ein Zaun!" Mit diesen Worten dreht Alex sich um und steuert im Laufschritt das andere Ende der Kuhweide an. Mathias und ich schauen uns etwas fragend an: Das soll alles an Einweisung gewesen sein, bevor wir auf eine halbwilde nordnorwegische Kuhherde losgelassen werden? Wobei die Frage eher ist, wer hier auf wen losgelassen wird, denke ich, während ich mit ausgebreiteten Armen übe, ein Zaun zu sein.
Seit ein paar Tagen sind wir auf der Rinderfarm von Anne und ihrem deutschen Mann Alex am Rande des Vesterålen-Archipels zu Gast. Anne hat die Farm vor einem Jahr von ihren Eltern übernommen, der Berliner Tätowierer Alex ist erst seit ein paar Monaten im Team. Bevor er seine Frau kennengelernt habe, erzählt er uns am Abend unserer Ankunft, habe er von Kühen und Bauernhöfen keine Ahnung gehabt. An das Leben als Rinderfarmer scheint er sich allerdings sehr schnell gewöhnt zu haben: Ich bewundere seinen lockeren Umgang mit den zentnerschweren Tieren, vor denen ich, offen gestanden, schon immer einen gehörigen Respekt hatte.
Heute haben uns die beiden gebeten, beim Rinderabtrieb zu helfen. Ihre Kühe grasen den Sommer über auf den Berghängen hinter der Farm mit einer fantastischen Aussicht auf die Gipfel von Lofoten und Vesterålen sowie auf den nahen Fjord. Kein Wunder, dass die Tiere keine Lust haben, diesen exklusiven Platz zu verlassen, und es, laut Anne, jedes Jahr zu mehr oder weniger erfolgreichen Fluchtversuchen einzelner Wiederkäuer kommt. Um eine wilde Stampede durch die Gärten der Nachbarschaft zu verhindern (denn die Kühe müssen den Berg runter, die Straße durchs Dorf entlang, den Berg wieder hoch und in den Stall getrieben werden), müssen die Kuhtreiber alle potenziellen Fluchtwege versperren und trotzdem den Kühen genug Raum lassen, damit sie nicht in Panik verfallen. Was denn passiere, wenn es nicht klappt, frage ich Anne, deren Blick Antwort genug ist. Eine panische Kuhherde wäre, gelinde gesagt, nicht gut.
So weit die Theorie. Alex, Annes Vater, Mathias und ich positionieren uns an strategisch wichtigen Punkten, während Anne mit einem großen Eimer Kraftfutter klappert, um die Kühe und Kälber anzulocken und in Richtung Weidegatter zu bugsieren. Zwischen ihnen grast auch Rentier Reinhard, der an einer schweren Identitätsstörung leidet und sich im Sommer von seinen Artgenossen losgesagt hat, um sich Annes Kuhherde anzuschließen. Das Gedränge am Gatter scheint ihm aber nicht ganz geheuer, und als Anne und die Kühe, gefolgt von uns Kuhtreibern, durch das Tor gehen, bleibt er traurig und allein auf der Weide zurück. "Was passiert mit Reinhard?", frage ich Anne, während wir auf dem Schneematsch hinter den Kühen den Berg hinunterschliddern. "Sein Besitzer holt ihn ab", antwortet sie und macht eine vielsagende Geste. Reinhard wird nicht mehr lange leiden müssen.
Die nächste halbe Stunde bemühen Mathias und ich uns mit allen Kräften, so autoritär wie möglich hinter den Kühen herzugehen, während Anne und Alex rechts und links durch Büsche, Gräben und über Steine hetzen, um alle halbherzigen Fluchtversuche zu unterbinden. Abgesehen von einer großen schwarzen Kuh, die einen extrem schlechten Tag zu haben scheint, sind die Rindviecher aber größtenteils kooperativ und lassen sich relativ problemlos in den Stall lotsen, wo sie mit lautem Muhen begrüßt werden.
"Ihr seid Naturtalente", lobt Anne hinterher unseren Einsatz, "ein exzellenter Zaun wart ihr!" Ein bisschen stolz auf mein bis dato unerkanntes Talent schaue ich noch bei meinem Patenkalb vorbei. Die kleine Sarah ist am Abend unserer Ankunft auf die Welt gekommen, und Anne hat die rothaarige Kuh mit den staksigen Beinen spontan nach mir benannt. Ich rechne es Mathias hoch an, dass er bisher noch keinen der naheliegenden Witze gerissen hat. "Wenn du mal groß bist", gebe ich Sarah mit auf den Weg und kraule sie hinter den flauschigen Öhrchen, "dann respektierst du bitte alle Arten von Zäunen – hölzerne wie menschliche!"
FiInfo: In loser Folge berichtet uns Sarah Kringe an dieser Stelle von ihrem Wohnmobil-Abenteuer mit ihrem Freund Mathias.